
Curriculum vitae
Theodor (Theo) Waigel
Geboren: 22 april 1939, Oberrohr
Partij: Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU)
- 1959-1963 Studie recht- en staatswetenschappen in München en Würzburg
- 1960 Lid CSU
- 1967 Promotie in de rechten
- Proefschrift: Die verfassungsmäßige Ordnung der deutschen insbesondere der bayerischen Landwirtschaft.
- 1967-1969 Gerichtsassessor bij Landgericht München I
- 1969-1972 Medewerker Anton Jaumann
- 1969-1970 Beiers staatsministerie van Financiën
- 1970-1972 Beiers staatsministerie voor Economie en Verkeer
- 1971-1975 Voorzitter Junge Union Bayern, de jongerenafdeling van de CSU
- 1972-2002 Lid Duitse Bondsdag
- 1982-1989 Voorzitter van de CSU-fractie en eerste vicevoorzitter van de CDU/CSU parlementaire groep
- 1988-1999 Partijvoorzitter CSU
- 1989-1998 Minister van Financiën Bondsrepubliek Duitsland
- 1999-2014 Advocaat bij GSK Stockmann + Kollegen, München
- 2009 Erevoorzitter CSU
Publicaties
(selectie)
- Die verfassungsmäßige Ordnung der deutschen insbesondere der bayerischen Landwirtschaft (Academisch proefschrift 1967).
- Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus – Die deutsche Währungsunion (Bruckmann 1994) Coauateur: Manfred Schell.
- Unsere Zukunft heißt Europa: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion (Econ 1996).
- Ehrlichkeit ist eine Währung. Erinnerungen (Econ 2019).
Metadata
- Datum interview: 16 November 2021
- Locatie: Den Haag (telefonisch)
- Interviewer: Michèle de Waard
- Opname: niet beschikbaar
- Duur interview: 01.30.30 uur
- Commentaar geïnterviewde: verwerkt
- Publicatie interview: 7 december 2022
Theo Waigel (1939) is jurist, en politicus van de Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU). Hij was minister van Financiën van 1989 tot 1998 en partijvoorzitter van de CSU tussen 1988 en 1999.
Als minister van Financiën was Waigel een bepalende speler in de ontwikkeling van het Duitse standpunt inzake de oprichting van de Economische en Monetaire Unie. Hij maakte zich onder meer hard voor een onafhankelijke Europese Centrale Bank en strenge criteria voor landen die de euro willen invoeren. Met het naar hem vernoemde plan uit 1995 legde hij de basis voor het Stabiliteits- en Groeipact dat tijdens de Europese Raad van Amsterdam (1997) werd aangenomen in de vorm van een resolutie.
Daarnaast geldt Waigel als de naamgever van de gemeenschappelijke Europese munt. In 1995 stelde hij voor om deze ‘euro’ te noemen.
Sinds zijn terugtrekking uit de actieve politiek werkt Waigel als advocaat en bekleedt hij verschillende (advies)functies in het bedrijfsleven en bij de Duitse overheid.
Interview:
‘Who is the boss?’
Samen met Helmut Kohl ijverde Theo Waigel tussen voor de realisatie van de Economische en Monetaire Unie. Maar de euro moet volgens hem niet beschouwd worden als de prijs die Duitsland betaalde voor de hereniging in 1990. De onafhankelijkheid van de Europese Centrale Bank en de realisatie van het Stabiliteits- en Groeipactwaren bepalend voor de Duitse instemming met de afschaffing van de D-mark.
Michèle de Waard
Sie waren in den siebziger Jahren noch kein Finanzminister, aber doch tätig im Finanzbereich in Bayern. Gab es damals schon Politiker in Deutschland, die die D-Mark aufgeben wollten – außer vielleicht Helmut Schmidt?
‘Es gab Politiker in Deutschland seit 1946, die eine gemeinsame Währung verlangt haben. Der allererste war der Gründer der CSU, Dr. Josef Müller. Er war im Widerstand, jahrelang in Geiselhaft im Konzentrationslager und wurde Gott sei Dank in Südtirol befreit. Der hat 1946 gesagt, wir brauchen eine gemeinsame Währung in Europa, weil Länder, die eine gemeinsame Währung haben, nie mehr Krieg gegeneinander führen. 1946 hat der Mann das gesagt.
‘In der CSU war es vor allem Franz Josef Strauß in den fünfziger Jahren, der im Bundestag als junger Abgeordneter vehement für Europa geworben hat. Und damals waren alle für ein gemeinsames Europa, für die Vereinigten Staaten von Europa. Und selbstverständlich hätten die Vereinigten Staaten von Europa auch eine gemeinsame Währung haben müssen. Insofern gab es diese Bestrebung immer. Und damit war auch klar, dass die D-Mark einer gemeinsamen europäischen Währung weichen würde. Als sich die D-Mark in den sechziger und siebziger Jahren stärker entwickelte, wurde sie zur Leitwährung in Europa. Und darum gab es viele, die sagten: Wir verfügen über eine tolle Währung, die geben wir doch nicht auf.
‘Trotzdem war in den maßgeblichen Parteien immer die Bereitschaft da, wenn die Bedingungen stimmen, und wenn eine klare stabilitätsorientierte Politik betrieben wird, dann ist Deutschland bereit, die D-Mark in eine gemeinsame Währung einzubringen.’
Was haben Sie davon persönlich gehalten? Fanden Sie das eine gute Idee?
‘Ja ich war immer für Europa. Allerdings in stabilitätsorientierter Ausrichtung. Damals war ich im Bayerischen Finanzministerium und im Wirtschaftsministerium in den siebziger Jahren als Referent tätig und habe die Gedanken von Pierre Werner verfolgt und dann als Abgeordneter seit 1972 begleitet.
‘Das war eine besondere Zeit, weil das Bretton-Woods-Währungssystem zusammengebrochen ist. Wir hatten danach ein wildes floating und man hat dann in Europa versucht, mit der Währungsschlange und anderen Instrumenten, die Ausschläge und Realignments in Grenzen zu halten. Das ist nicht gelungen.
’Dann gab es einen neuen Anlauf mit Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt 1979, das europäische Währungssystem zu koordinieren. Es konnte nur gelingen, wenn die Volkswirtschaften sich aufeinander zubewegen und kongruent sind, und die Wettbewerbsfähigkeit überall geboten war. Wenn also die Finanzpolitik und die Wirtschaftspolitik in bestimmten Ländern auf Stabilität gerichtet war und andere Länder es nicht so genau nehmen mit der Inflation und den Schulden, dann konnte eine gemeinsame Währung nicht stattfinden.
‘In Maastricht wurde ein Prozess in Bewegung gesetzt, der zehn Jahre gedauert hat: von 1988 in Hannover bis 1998 in Brüssel. Zehn Jahre hat die Vorbereitung gedauert. Und wenn man noch das Europäisches Währungssystem (EWS) dazurechnet, von 1979, dann waren es im Grunde zwanzig Jahre, bis der Euro Wirklichkeit wurde.’
Und in den achtziger Jahren, hat der Prozess dann mit dem Delors-Bericht an Geschwindigkeit gewonnen.
‘Ja, aber erst Ende der achtziger Jahre. Anfang der achtziger Jahre hatten wir eine Eurokrise. Eine Eurosklerose, hat der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Herbert Giersch es genannt. Nach 1979 geriet das Projekt in eine Krise. Es gab über zwanzig Realignments und bittere Auseinandersetzungen. Und es war Helmut Kohl, der dann Ende der achtziger Jahre Europa stärker ins Visier nahm und bereit war 1988, in Hannover die Delors-Kommission einzurichten mit dem klaren Ziel: wir wollen eine gemeinsame Währung. Der Deutsche Bundestag war zu dem Zeitpunkt nicht sonderlich begeistert, hat aber mitgemacht als Karl Otto Pöhl, der Präsident der Bundesbank, an dem Delors-Ausschuss mitwirkte.’

Kohl hat dann die Initiative ergriffen?
‘Kohl hat die Initiative ergriffen und in Frankreich einen guten Partner gefunden in François Mitterrand, obwohl die beiden völlig unterschiedlich waren. Aber sie haben beide die Einsicht gehabt, wir müssen Europa stärken. Nur dann können unsere Nationen auf Dauer bestehen.’
Hat Kohl während der Präsentation des Delors-Berichts 1989 schon von einer Unumkehrbarkeit gesprochen, oder war das noch zu früh?
‘Es war irreversibel. Im Endspurt der Veranstaltung in Maastricht. Da war ich dabei. Und da hat er gesagt, das muss ein irreversibler Prozess sein. Spätestens 1991 habe ich das Wort irreversibel auf jeden Fall von ihm gehört.’
Das war während der Maastrichtkonferenz?
‘Ja, während der Konferenz, bevor die Endverhandlungen begannen, sagte er: es muss klar sein, was wir entscheiden ist von Dauer und hat eine Ewigkeitsgarantie.’
Ich möchte kurz zum Mauerfall kommen. Also die Mauer ist gefallen und dann hat der Europäische Rat 1989 in Straßburg getagt. Waren sie da dabei?
‘Ich glaube schon. Aber Sie zielen jetzt auf ein Thema: ob also der Euro der Preis ist als Zustimmung zur Deutschen Einheit?’
Ich möchte wissen, inwiefern vorher ein Deal zwischen Kohl und Mitterrand abgemacht war? Kohl hat in seinen Memoiren über diese Veranstaltung geschrieben, dass es für ihn ein total bitteres Ereignis war, als er hörte wie groß das Misstrauen war von Lubbers und Thatcher gegenüber der bevorstehenden Einheit.1Helmut Kohl, Erinnerungen 1982-1990 (Droemer 2005) 1012-1015, 1033. Mitterrand wollte jedenfalls eine feste Zusage über die Europäische Währungsunion. War der Deal schon vorher abgemacht, oder ist das in Straßburg besprochen worden?
‘Es ging damals um die Frage, wann beginnen Regierungsverhandlungen. Da gab es die Einigung: ok, wir machen das noch im Jahr 1990 unter italienischer Ratsherrschaft. Zu dem Zeitpunkt konnte noch niemand zusagen, ob eine gemeinsame Währungsunion zustande kommt und wie viele Länder daran teilnehmen.
‘Die Entscheidung fiel zehn Jahre später, am 2 Mai 1998 in Brüssel. Zwischenzeitlich gab es in Deutschland zwei Bundestagswahlen, Veränderungen im Bundestag, Veränderungen im Bundesrat. Und klar war: am Schluss muss eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat stehen. Das konnte zu dem Zeitpunkt kein Kanzler versprechen. Helmut Kohl war nicht in der Lage zu sagen, dass er 1997 oder 1999 noch Kanzler ist. Und Mitterrand konnte nicht zusagen, dass er dann noch Präsident ist. Das waren Willenserklärungen, die Bereitschaft, miteinander zu verhandeln.
‘Das Wichtigste war: Deutschland und Helmut Kohl haben während der Wiedervereinigung, die sich 1989 überraschend ergab, den europäischen Prozess nicht unterbrochen.
‘Helmut Kohl hat klargemacht: es gibt keine Änderung unserer Europapolitik. Wir bleiben in der EU. Wir bleiben in der NATO. Deutschland wird künftig der EU, und ganz Deutschland wird der NATO angehören. Das war wichtig. Aber es gab kein Junktim zwischen der Zustimmung zur Deutschen Einheit und der Bereitschaft, den europäischen Prozess zu einer gemeinsamen europäischen Währung weiterzuführen.’
Woher kommt den eigentlich diese Geschichte?
‘Ich weiß nicht, wer das erfunden hat. Es kam vor allem aus der Umgebung von Mitterrand, und zwar aus dem Grund, weil sich Mitterrand gegenüber der Deutschen Einheit anfangs nicht besonders begeistert gezeigt hat. Gorbatschow hat mir das selbst erzählt. Und es lässt sich in Protokollen, die veröffentlicht sind, nachlesen, dass Mitterrand und Thatcher vor einer schnellen Wiedervereinigung gewarnt haben.
‘Ich sage nochmal: weder Helmut Kohl noch ein anderer Kanzler hätte das zu diesem Zeitpunkt versprechen können. Wir konnten nur zusagen – und das haben wir eingehalten – wir sind bereit, den Weg zu gehen. Wir sind bereit, einen Vertrag zu erarbeiten. Und wir sind bereit, die Kriterien, die gemeinsam verabredet werden, auch einzuhalten. Wenn das stattfindet, dann kann eine gemeinsame Währung eingeführt werden, aber nicht als politische Entscheidung. Die europäische Währung ist kein politisches Dekret sondern entstanden aus den Konvergenzen der teilnehmenden Länder.’
Und haben Sie dann damals bei diesem Straßburg Rat mit Kohl über das Verhalten von Ruud Lubbers gesprochen, dort oder vielleicht später?
‘Ich kann nur sagen, dass Wim Kok immer an unserer Seite stand. Ich kann mich erinnern, als wir den Stabilitätspakt in Dublin 1996 verhandelt haben, da gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Kohl und Jacques Chirac wegen des Stabilitätspakts. Und Chirac hatte mich vorher in einem Interview sehr heftig kritisiert und als deutschen Technokraten bezeichnet. Das habe ich mir nicht gefallen lassen. Kohl hat ihn dann zur Rede gestellt und verlangt, dass klare Stabilitätsregeln gefunden werden, die über die Verträge von Maastricht hinausgehen.
‘Und Wim Kok stand in einer Entfernung von einigen Metern und hat zugehört wie Chirac und Kohl sich unterhalten haben, und dann zugerufen: Helmut, gib nicht nach, gib nicht nach.’
Das war eine sehr wichtige Unterstützung.
‘Ja, es war wichtig. Die Niederlande standen immer an unserer Seite. Die Finnen standen an unserer Seite. Luxemburg, Belgien meistens. Später auch Österreich. Also es gab wichtige Stabilitätsunterstützer in dem Zusammenhang. Und gerade die Niederlande und ihre Finanzminister waren wertvolle Partner.’
Dann haben wir die Periode nach November 1989. Sie haben sich bemüht als Finanzminister auf diese Währungsunion hinzuarbeiten. Was strebten sie an?
‘Wir hatten beides. Wir mussten eine Deutsche Währungsunion schaffen mit der Einführung der D-Mark mit der damaligen DDR, weil das der nächste Schritt zur Deutschen Einheit war. Und gleichzeitig haben wir an einem Vertragsentwurf für die europäische Währung gearbeitet, da war mein damaliger Staatssekretär Horst Köhler federführend beteiligt. Wir haben beides parallel vorangebracht, mussten die Kosten der Wiedervereinigung schultern und gleichzeitig die Kriterien von Maastricht erreichen. Das war eine schwierige Herausforderung. Wir mussten vier bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts für die Wiedervereinigung aufwenden und haben trotzdem 1997 alle Kriterien von Maastricht erreicht.’
Das war bestimmt eine große Herausforderung. Hat es dann im Anschluss einen internen Streit gegeben im Politik- oder Finanzbereich zwischen Politikern oder Bänkern, die gar nicht einverstanden waren mit dieser Währungsunion wegen der großen Unterschiede in Europa?
‘Das gab es, eine Reihe von Wissenschaftlern, die gemeint haben, das gehe nicht oder gehe jetzt noch nicht. Es gab auch Bedenken der Deutschen Bundesbank. CDU und CSU waren dafür, auch die FDP, die SPD in großen Teilen, Gerhard Schröder, der spätere Bundeskanzler nicht immer. Auch die Bayerische Staatsregierung unter Edmund Stoiber hat immer wieder Bedenken erhoben. Es war nicht einfach; wir mussten uns damit auseinandersetzen und hatten Erfolg.
‘In dieser Zeit, von 1990 und 1994 haben wir die Bundestagswahlen klar gewonnen. 1998 wurden wir zwar abgelöst, aber SPD und Grüne waren auch europäisch ausgerichtet. Das heißt, es gab immer eine klare Mehrheit für den europäischen Kurs und für eine gemeinsame europäische Währung.’
Der größte Widerstand ist dann wahrscheinlich von der Bundesbank gekommen?
‘Ja, aber am Schluss hat die Bundesbank im März 1998 ein Gutachten erstellt, in dem sie den Beginn der Währungsunion und die Teilnehmerzahl für vertretbar gehalten hat. Und das war wichtig für die Entscheidung von Bundestag und Bundesrat.’
Wie würden Sie die Kontakte mit Ihren niederländischen Kollegen beschreiben? Und damit meine ich beim Finanzamt Onno Ruding, Wim Kok, bei der Zentralbank Wim Duisenberg und natürlich Premierminister Ruud Lubbers.
‘Onno Ruding war anfangs dabei, als wir den Delors-Bericht in Zagora, Griechenland diskutierten. Ich habe mich mit ihm gut verstanden. Dann kam schon bald Wim Kok. Und obwohl er ein Sozialdemokrat war und ich Christsozialer, haben wir sehr gut und eng zusammengearbeitet. Und das hat sich bei Gerrit Zalm fortgesetzt. Wir haben uns manchmal vorher abgesprochen, wie wir uns im Ecofin, im Rat der Finanzminister, verhalten.
‘Manchmal hat der eine das Wort ergriffen, mal der andere. Das war eine sehr gute Abstimmung. Wim Duisenberg war für uns der Idealkandidat für die EZB Präsidentschaft. Am Schluss bei der entscheidenden Sitzung am zwei Mai 1998 hat es leider bis Mitternacht gedauert, bis wir endlich zu einem Ergebnis kamen. Ich habe vehement vor einer Aufteilung der Amtszeit gewarnt, die eine Zeit lang diskutiert wurde, und erklärt, das sei völkerrechtswidrig. Es musste eine unbedingte Wahl sein. Wenn dann Duisenberg erkläre, er werde wegen seines Alters nicht die vollen acht Jahre fungieren, war das seine freie Entscheidung, aber er musste frei sein, wann er das entscheidet. Wim Duisenberg hat sich auch mit Karl Otto Pöhl gut verstanden, sodass auch beim Konzept der Europäischen Zentralbank eine sehr gute Abstimmung stattfand.
‘Eines muss ich auch noch sagen: als es 1992, 1993 gewaltige Krisen gab, und der französische Finanzminister in einer solchen Zeit Deutschland aufgefordert hat, den EWS zu verlassen, und Frankreich würde dann die Führungsposition einnehmen, hat Wim Kok ganz klar gesagt: wir bleiben, auf der stabilitätsorientierten Seite. Wir lassen uns nicht auseinanderzerren. Auch in solchen kritischen Situationen standen die Niederlande fest zu uns.’
Zuerst gab es dann den Vorsitz des Europäischen Währungsinstituts, als Vorgänger der EZB?
‘Das war Alexandre Lamfalussy. Er hat auf eine Vertragsverlängerung verzichtet und erklärt es solle jetzt der berufen werden, der auch später EZB-Präsident wird. Merkwürdigerweise hat Frankreich das dann nicht mitgetragen und wir haben Stunden um Stunden in Brüssel am zwei Mai 1998 verhandelt. Und das war schlimm, weil 2000 Journalisten in Brüssel warteten. Es wurde Nachmittag, es wurde Abend, es wurde Nacht. Und sie erhielten keine Nachricht. Dann fiel der Alkohol aus und das Wasser auch noch. Und alle Journalisten waren stinksauer, und sie konnten nichts berichten weder für das Fernseher noch für die Zeitungen am nächsten Tag. Und darum war das Pressecho einen Tag später verheerend. Das war die Schuld von Chirac.’
Warum?
‘Weil er Jean-Claude Trichet durchsetzen wollte, wenigstens für die zweite Hälfte. Er wäre einverstanden gewesen mit vier Jahren Duisenberg und vier Jahren Trichet. Es konnte kein Deutscher sein, weil der Sitz der EZB in Frankfurt war. Wir wollten auf jeden Fall einen Fachmann, der der deutschen Stabilitätsphilosophie verbunden war. Und er hat es gut gemacht.
‘Ich war am 31 Dezember 1998 nicht mehr im Amt. In der entscheidenden Konferenz, als das ganze formal besiegelt wurde, haben mich Wim Duisenberg, Dominique Strauss-Kahn, und Jean-Claude Juncker angerufen und gesagt: Theo, schade, dass du nicht dabei bist.’
Waren die Niederlande damals immer ein zuverlässiger Partner oder konnten sie auch recht unbequem sein?
‘Absolut zuverlässig. Da hat Gerrit Zalm manchmal kritische Töne nach Italien oder andere Länder gesandt. Das lag in unserem gemeinsamen Interesse.’
Wenn über die Gestaltung der EZB gesprochen wurde, hatte die Niederlande zuerst diese Idee, dass das niederländische Modell führend sein sollte.2Zie ook de interviews met Cees Maas en Nout Wellink. Das kannte ein Anweisungsrecht, also Einmischung der Finanzminister, was übrigens noch nie verwendet worden ist.
‘Im EZB- Statut, von den Präsidenten der Notenbanken vorgelegt, war ganz klar die Philosophie der Unabhängigkeit, die im Deutschen Bundesbankgesetz vorgesehen ist. Auch die anderen Notenbankpräsidenten stimmten zu, weil sie alle unabhängig sein wollten von ihren Regierungen. Insofern haben wir das auf diese Art und Weise gut auf den Weg gebracht.
‘Es hat auch nicht allen Regierungen gefallen. Ich kann mich erinnern, als wir zum ersten Mal darüber debattierten, da hat der spanische Finanzminister gesagt, aber irgendjemand muss doch entscheiden, und das kann doch nur der Finanzminister sein. Und ich habe ihm gesagt nein, es ist besser, wenn über Zinsen und über Geldbeträge nicht der Finanzminister, sondern die Notenbank entscheidet. Und zwar unabhängig. Who is the boss?, hat er immer wieder gefragt, Who is the boss?‘
Zurück zur Regierungskonferenz 1991. Sie waren dabei. Wie intensiv war dann der Kontakt zwischen Ihnen selber, Ihrem Finanzministerium, der Bundesbank, und den Niederländern – das heißt die niederländische Zentralbank. Wie eng waren damals die Kontakte hin und her?
‘Ja, auch da waren die Kontakte eng. Ich habe durchgesetzt, dass die Finanzminister den ökonomischen Teil des Maastrichtvertrags behandeln. Ursprünglich wollten das wie in früheren Zeiten die Außenminister machen. Das war eine ökonomische Frage von so großer Tragweite, die konnten die Außenminister nicht alleine entscheiden. Und so kam es dann zur Trennung. Die Außenminister haben den Teil zur politischen Union verhandelt. Und wir den ökonomischen.
‘Pierre Bérégovoy von Frankreich spielte eine zentrale Rolle. Er war früher Büroleiter von Mitterrand, aber Mitterrand hielt von Finanzministern nichts. Wenn die Finanzminister beim Europäischen Rat den Saal betreten haben, hat er ihn oft verlassen, weil er meinte, das kleinliche Geschäft um Geld und um Kredit sei angesichts der großen Idee nicht hilfreich. Dann kam Bérégovoy zu mir: Theo, ich kann mit dieser und jener Frage nicht zu meinem Chef gehen, könntest du bei Kohl erreichen, dass Kohl auf ihn einwirkt, und es dann so gemacht wird.
‘Wenn Kohl zu Mitterrand kam, hat er das akzeptiert, aber die Finanzminister mochte er nicht.
‘Auch in der Zeit waren wir in einem engen Austausch mit den Niederländern und bei den Verhandlungen waren dann die Finanzminister und ihre Mannschaft immer in enger Abstimmung, auch mit den Notenbankpräsidenten und das war bei uns zu der Zeit Karl Otto Pöhl. Als es auf Maastricht zuging, war es Helmut Schlesinger, der die Dinge sehr gut mitverhandelt hat und auch bereit war, im Zuge der Sache Kompromisse einzugehen. Ich hatte mit Schlesinger ein sehr gutes persönliches und sachliches Verhältnis.’
Und wie war der Kontakt zwischen Ihnen und Kohl während dieser Konferenz? Haben Sie das alles miteinander gemacht oder hat es da auch Alleingänge von Kohl gegeben?
’Nein, das hat es nicht gegeben. Kohl hat alles, was er unternommen hat, mit mir abgesprochen. Auch als es bei den Verhandlungen in Maastricht darum ging, welche Termine festgelegt werden, war er am Anfang skeptisch gegenüber den Terminen und hat gesagt: Wir können das machen, wenn die Kriterien erfüllt sind.
‘Aber wir haben uns dann darauf geeinigt, weil Frankreich und andere Länder unbedingt einen Termin wollten, und haben dann die beiden Termine 1 Januar 1997 oder 1 Januar 1999 in den Vertrag hineingeschrieben.
‘Aber eines war auch klar, wir hätten es nicht gemacht, wenn die Kriterien nicht erfüllt gewesen wären. Für mich bestand immer die Devise, auch für Kohl: die Kriterien bestimmen den Zeitplan, und nicht der Zeitplan die Kriterien. Auch da gab es eine enge Abstimmung mit den Niederlanden. Wir waren uns darüber im Klaren, wenn wichtige Länder die Kriterien nicht einhalten, dann lassen wir uns nicht unter Druck setzen, sondern dann muss es verschoben werden. Allerdings hätte jede Verschiebung das ganz große Risiko beinhaltet, dass das Projekt dann gescheitert wäre.’
Wann war es für Sie deutlich, dass ein Datum in den Vertrag geschrieben würde?
‘Das ist erst während der Verhandlungen damals dann im Dezember in Maastricht passiert. Da haben wir miteinander geredet. Da war eben der Wunsch von sehr vielen, auch Frankreich, ein Datum hineinzuschreiben. Und den Kompromiss sind wir dann eingegangen, allerdings mit der Bedingung, die Kriterien werden nicht aufgeweicht. Das war am dritten Dezember in Maastricht.’
Also das war nicht vorher zwischen Kohl und Mitterand erledigt worden?
‘Nein, es ist in Maastricht vereinbart worden. Mir wäre es lieber gewesen, es wäre kein Datum drin gestanden.’
Weil dann musste man einfach.
‘Ja, dadurch entstand natürlich ein Druck. Aber ich sage nochmal, sowohl die Niederlande als auch wir hätten uns dem Druck nicht gebeugt, wenn Italien vier Prozent Staatsdefizit gehabt hätte, dann hätten wir nein gesagt. Und ich muss ehrlich sagen, wenn Deutschland 3,1 Prozent gehabt hätte, hätte ich es auch nicht gemacht, weil ich klipp und klar versprochen hatte: drei ist 3,0 und nicht irgendetwas anderes.’
Wer hat dann dieses Datum vorgeschlagen? Da gibt es nämlich unterschiedliche Geschichten. Eine ist, dass Mitterrand und Giulio Andreotti am Abend vorher, so am achten Dezember, das miteinander und mit Kohl morgens früh am neunten Dezember abgemacht haben.3Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine Politische Biographie (Deutsche Verlags-Anstalt 2012) 701. Stimmt das?
‘Ich glaube, dass die Version stimmt – dass es ein Gespräch gegeben hat zwischen Mitterrand, Andreotti und Kohl. Und dass die sich geeinigt haben. Das glaube ich ist die wahrscheinlichere Version.’
Für Sie hat es keinen Grund gegeben, das kritisch zu bewerten, als Kohl sich dann für das Datum entschieden hat?
‘Es wäre mir lieber gewesen, der Termin hätte nicht dringestanden. Aber trotzdem habe ich klar gemacht, wir lassen uns nicht erpressen. Und es blieb dabei, die Kriterien bestimmen den Eintritt, nicht der Zeitplan. Die Außenminister, auch Hans-Dietrich Genscher, haben argumentiert, wenn kein Termin drinsteht, dann entsteht kein Druck. Durch den Termin entsteht dann auch Druck für die Staaten, die Kriterien stärker anzustreben.’
Aber Sie haben doch versucht, den Bundeskanzler davon zu überzeugen, von dem Datum abzusehen?
‘Es war vereinbart, aber im Vorfeld wäre es mir lieber gewesen, man hätte auf das Datum verzichtet. Aber ich konnte dann mit dem Datum leben und habe es akzeptiert.’
Dann ist in Maastricht auch über dieses Britische Opt-out gesprochen worden. War das ihrer Meinung nach vorher abgesprochen zwischen England und Deutschland? Oder war das eine totale Überraschung für alle?
‘Das war ein Alleingang. Aber eine echte Überraschung war es nicht. Weil man wusste, wie ambivalent das Verhältnis von Großbritannien zur EU war, einmal für Europa und einmal gegen Europa. Es hat sich ja auch danach herausgestellt, dass England, nachdem es dem EWS beigetreten ist, ein Jahr später wieder austreten musste.
‘Zunächst hat Churchill 1946 in Zürich gesagt: Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa in Großbritannien. Und als er Premierminister wurde 1951, sagte er: Ich bin für die Vereinigten Staaten von Europa, aber nicht mit Großbritannien.
‘Wir haben die Opting-out Klausel akzeptiert. Großbritannien hat mitgewirkt am Vertrag und war insofern hilfreich, weil sie auf der stabilitätsorientierten Politik standen. In der Sache waren sie eher auf der Seite der Niederlande und Deutschlands.’
Wie haben Sie dann nachher den niederländischen Vorsitz dieser Regierungskonferenz empfunden? Und die Rollenverteilung Lubbers-Kohl?
‘Die Zielsetzung der Niederländer lag sehr stark bei uns. Wir haben einen eigenen Entwurf vorgelegt, weil der Delors-Bericht nur einen Prozess andeutete. Und wir haben dann einen Vertragsentwurf entwickelt. An dem haben sich auch die Niederländer stark orientiert. Also das lief dann gut, obwohl sich Lubbers und Kohl nicht besonders gut verstanden. Aber auf der Ebene der Finanzminister hatten wir keine Probleme.’
Ist während der Konferenz in Maastricht der Bruch entstanden zwischen Lubbers und Kohl oder war das schon vorher in Straßburg ’89 der Fall?
‘Nein, das war schon vorher, weil Lubbers sich nicht besonders freundlich zur Deutschen Einheit geäußert hat. Aber wir sind damit professionell umgegangen. Es muss nicht jeder den anderen lieben. Wichtig ist, dass man sachlich miteinander umgeht.’
Reden wir über die Periode nach 1992 bis 1998. Wann wurde die Einführung des Euros irreversibel?
‘Der endgültige Einführungstag, dass der Euro als Buchführungswährung eingesetzt wird, war der 1 Januar 1999. Und die Scheine und Münzen kamen zwei Jahre später.’
Und dann war es für Sie persönlich als Finanzminister irreversibel?
‘Das war irreversibel. Zu dem Zeitpunkt war klar: das hat Bestand. Wobei niemand daran gehindert werden kann, auszutreten. Ausstieg und Austreten ist nicht vorgesehen. Es sollte eine dauerhafte Bindung der Länder mit einer gemeinsamen Währung sein.’
Gab es in dieser Zeit nach 1992, innerhalb der deutschen finanz- und politischen Elite Personen oder Kräfte, die versucht haben, den Euro unmöglich zu machen, das zu verhindern?
‘Das gab es immer wieder. Ich kann mich erinnern, dass Schröder, der spätere Bundeskanzler, als Ministerpräsident von Niedersachsen von einer kränkelnden Frühgeburt sprach. Und auch, wie gesagt in der Bayerischen Staatsregierung, meiner eigenen Partei, hatte der Ministerpräsident Stoiber vor im Bundesrat nicht für den Beginn der Währungsunion zu stimmen. Dann habe ich ihm gesagt: Wenn du das machst, trete ich zurück, als Finanzminister und als Parteivorsitzender. Aber ich werde dich kritisieren und attackieren.’
Dann hat er davon abgesehen?
‘Das hat dazu geführt, dass die Bayerische Staatsregierung zugestimmt hat. Aber die Stimmen gab es immer wieder, auch aus Bundesbankkreisen. Es gab immer wieder kritische Stimmen. Und es gab sogar eine D-Mark Partei, die gegründet wurde von einem früheren FDP-Mitglied, Manfred Brunner, Kabinettschef von Kommissar Martin Bangemann in Brüssel und Landesvorsitzender der FDP in Bayern.
‘Er hat eine D-Markpartei gegründet, die von dem Milliardär August von Finck finanziell unterstützt wurde mit Millionenbeträgen, aber kläglich scheiterte. Das alles hat eine Rolle gespielt und man musste sich dem stellen und immer wieder die Bevölkerung überzeugen.
‘Wir hatten ständig Wahlen. Bundestagswahlen, Landtagswahl, Europawahlen Ich habe immer gesagt, der Euro wird die gemeinsame europäische Währung werden. Sie wird so stark und so stabil werden wie die Deutsche Mark. Und das ist eingetreten.’
Kohl hat am Anfang gegenüber Mitterrand Mal gesagt, dass er der letzte Kanzler sei, der den Euro irreversibel machen könnte. Also nach ihm war das offensichtlich nicht mehr möglich. Wie sollte man das verstehen?
‘Kohl war von seiner Bedeutung auch überzeugt, wie jeder große Politiker. Er wollte damit zum Ausdruck bringen: Ihr müsst wissen, ich bin ein geborener Europäer. Seit 1946 bin ich Europäer. Ich habe die Schrecken des Zweiten Weltkrieges noch als fünfzehnjähriger Soldat miterlebt. Ich komme aus Rheinland-Pfalz, einer Nachbarregion zu Frankreich. Ich weiß, was das alles bedeutet.
‘Und ähnlich hat ja auch Konrad Adenauer am Schluss seiner Amtszeit argumentiert: Um Gottes Willen, was wird aus Deutschland nach mir?
‘Das ist oft so bei großen Gestalten. Ich habe das erlebt, als Kohl im Streit mit Chirac sagte: Ich könnte auch aufhören. 1994 hat Kohl überlegt, ob er in der Mitte der Regierung 1996 aufhört. Wegen Europa hat er das unterlassen.
‘Er ist geblieben, wegen Europa. Er wusste: Ich muss das selber durchsetzen. Wenn jetzt ein Nachfolger gewählt wird, hat er nicht meine Autorität und das Vertrauen. Helmut Kohl hatte ein großes Vertrauenskapital in Europa über politische Grenzen hinweg. Felipe González, Mitterrand, Carlo Ciampi und andere, die hielten alle zu ihm. Mitterrand wusste, ich habe in ihm einen guten Freund und Verbündeten.’
Und dann sind die monetären Probleme in 1992, 1993 gekommen und ist der EWS zusammengebrochen. Sind Sie dann skeptischer geworden?
‘Das war schon eine schwierige Zeit. Die Realignments, die Verhandlungen waren sehr schwierig. Die Auseinandersetzungen im Ecofin-Rat, der Streit mit dem Britischen Finanzminister, Schatzkanzler Norman Lamont. Der Druck auf Deutschland, ständig die Zinsen zu senken, obwohl sich die Bundesbank geweigert hat. Der Versuch, die Bundesregierung müsse doch die Bundesbank bewegen, eine andere Währungspolitik zu betreiben. Das war schwierig und Realignments für die Länder die abwerten mussten, waren tiefe Kränkung ihres Standings.
‘Wir haben nie aufgegeben. Als wir 1993 sehr heftig miteinander gerungen haben, auch mit Frankreich, da war es der britische Schatzkanzler Kenneth Clarke, der gesagt hat: Einigt euch. Wir haben damals die Bandbreiten zu 15 Prozent erweitert, um mehr Flexibilität zu schaffen. Es war Kenneth Clarke, der damals ausrief: Ihr müsst das machen, sonst ist das Projekt der europäischen Währung gescheitert. ‘Kenneth Clarke war immer auch ein Anhänger der europäischen Währung und war auch der Meinung, dass Großbritannien teilnehmen sollte. Das waren schwierige Operationen, die wir durchgeführt haben, aber die dann gemeinsam doch Wirkung gezeigt haben. 1995 mussten wir eine Aufwertung verkraften, die von Mexiko zu uns drang. Es gab immer wieder Probleme, aber die schwierigsten waren 1991, ’92, ’93.’
Dann haben Sie diesen Waigel Plan vorgeschlagen. Weshalb?
‘Den Stabilitätspakt. Der kam deswegen, weil wir uns überlegt haben: was ist eigentlich, wenn ein Land 1997 und ’98 die Kriterien erfüllt und danach gibt es plötzlich eine andere Stimmung, Neuwahlen, neues Parlament, neue Regierung? Und eine neue Regierung sagt: Das interessiert uns überhaupt nicht, wir haben 1997-1998 die Kriterien erfüllt. Jetzt machen wir wieder eine lockere Finanzpolitik und kümmern uns nicht um die Defizite.
‘Da kam die Überlegung, was können wir tun, um das Ganze nachhaltig zu machen und die Finanzpolitik in Europa tragfähig zu machen auf die Dauer. Das Prinzip der Nachhaltigkeit. Die Kriterien müssen dauerhaft erfüllt werden. Mittelfristig ist es notwendig, einen Haushaltsausgleich zu erzielen, langfristig einen Surplus, um die demografischen Probleme, die sich damals schon abzeichneten, zu lösen.
‘Mit diesem Stabilitätspakt gingen wir dann in die Gespräche und es kam dann abschließend in Dublin 1996 zu schwierigen Auseinandersetzungen mit Chirac. Aber am Schluss, auch durch Unterstützung von Jean-Claude Juncker, konnten wir uns einigen, wie Ausnahmefälle und Sanktionen gehandhabt werden. Dann gab es in Frankreich Neuwahlen und Chirac verlor die Parlamentswahl. Es kam eine sozialistische Regierung. Und Dominique Strauss-Kahn kommt in die erste Sitzung der Finanzminister und sagt: Ich lehne den Stabilitätspakt ab. Ich habe ihm gesagt: Das geht nicht. Nicht Einzelne haben den Vertrag unterschrieben, sondern Länder. Und man muss sich an das halten, was ein Land zugesagt hat.
‘Ich habe ihn gefragt: Warum bist du dagegen? Er antwortete: Weil wir im Wahlkampf versprochen haben, dagegen zu sein. Ich: Warum habt ihr das gemacht? Er: Weil wir nicht dachten, wir würden gewinnen. Dann habe ich überlegt: es gibt eine Chance zur Einigung. So haben wir aus dem Stabilitätspakt einen Stabilitäts- und Wachstumspakt gemacht. Und haben einen Abschnitt über Wachstum hinzugesetzt, sonst nichts geändert. So haben wir ihn verabschiedet
‘Letztlich kam es darauf an, eine Einigung zwischen Deutschland und Frankreich herbeizuführen. Das habe ich versucht. Chirac war schwierig, aber es ist dann doch gelungen, eine gemeinsame Lösung zu finden, die nicht optimal war, aber die eine gute Voraussetzung für eine mittelfristige, stabilitätsorientierte Finanzpolitik gewesen ist.’

Sie wollten am Anfang doch eigentlich auch automatische Sanktionen.
‘Das war nicht durchsetzbar. Insofern haben wir versucht, Zahlen einzufügen. Wann kann das Staatsdefizit über drei Prozent angehoben werden – wenn ein Konjunkturrückgang stattfindet. Also wir haben versucht die Ausnahmen zu definieren. Klar war auch, es bedurfte immer einer gemeinsamen Entscheidung, weil Frankreich sagte, sonst sei die Souveränität der Nation außer Kraft gesetzt und das konnten und wollten sie nicht hinnehmen.’
Zalm hat es auch unterstützt?
‘Zalm war voll auf unserer Seite.’
Es waren vor allem die Franzosen, die das nicht wollten.
‘Sie sahen die nationale Souveränität gefährdet. Und das ist interessante, dass in gewissen Abständen, jetzt Emmanuel Macron sagt: Es muss eine europäische Souveränität geben.
‘Aber sie waren nie bereit, die französische Souveränität infrage zu stellen. Es gilt nicht nur für Frankreich, das gilt auch für viele andere Länder.’
Wie würden Sie die Beziehungen zwischen den Niederlanden und Deutschland in Bezug auf das ganze Eurodossier, also von 1990 bis der Euro in 2002 eingeführt wurde, beschreiben?
‘Immer konstruktiv, sachlich und kooperativ. Ich muss den Niederlanden und seinen Repräsentanten großen Respekt zollen.
‘Es gab auch eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen Duisenberg und Hans Tietmeyer. Duisenberg wurde anerkannt und hatte hohes Ansehen. Er hatte eine glänzende Voraussetzung, weil er bei seinen Statements dies in vier Sprachen konnte, in seiner Heimatsprache, auf Englisch, auf Deutsch und auf Französisch. Das war eine Idealbesetzung.
‘Ich bewundere die kleineren Länder, dass ihre Repräsentanten so sprachbegabt sind. Es gilt für Luxemburg, für Dänemark, und auch für andere Länder. Da sind sie den großen Ländern überlegen und es schafft ihnen einen Flexibilität bei Verhandlungen.’
Deutschland hat sich also nie von den Niederlanden mit Bezug zum Waigel Plan oder Stabilitätspakt oder diesem Vertrag von Amsterdam im Stich gelassen gefühlt?
‘In meiner Zeit nicht. Ich habe, worauf ich stolz bin, nach meiner Amtszeit einen hohen niederländischen Orden erhalten, den mir Gerrit Zalm verliehen hat. In Den Haag war das. Da ist etwas lustiges passiert. Ich trug einen Smoking, das war vorgesehen. Gerrit Zalm hatte das vergessen und kam in einem normalen Anzug. Das war ihm peinlich, und einer seiner Mitarbeiter musste seinen Smoking abgeben, den Smoking ausziehen und das Sakko von Gerrit Zalm anziehen.’
Jetzt noch ein Punkt in Bezug auf die Währungsunion und Italien. Es sind immer Italien, Griechenland, und Belgien gewesen, die in einer schwierigen Lage waren, oder sind. Aber diese Länder waren immer in einer schwierigen Lage. Wann dachten Sie, wir können da keinen Widerstand mehr leisten?
‘In Italien vollzog sich eine Wende, als Carlo Ciampi tätig wurde, zuerst als Finanzminister und später als Regierungschef. Mit Ciampi war klar, dass er eine stabilitätsorientierte Politik in Italien durchsetzen wollte. Er war ein absolut glaubwürdiger, weiser Politiker. Mit ihm konnte man den Weg gehen. Italien hat die Kriterien erreicht und zugesagt, dass sie, um von ihrem hohen Schuldenberg loszukommen, einen Primärüberschuss erwirtschaften wollen. Das haben sie bis zur Finanzkrise 2008 auch praktiziert. Ciampi hat eine ganz wichtige Rolle in dem Zusammenhang gespielt.
‘Und was Belgien anbelangt: Belgien hatte ein hohes Privatisierungspotenzial und insofern war es klar, dass Belgien über Privatisierung seinen hohen Schuldenstand von über 100 Prozent schneller runterkommen konnte. Das waren die zwei Bedingungen, die diese beiden Länder auch erfüllen mussten und die sie auch jedenfalls bis zur Finanzkrise erfüllt haben.’
Und die Ausnahme ist Griechenland, die dann später dazugekommen ist.
‘Das ist ein Vorgang, an dem ich keine Verantwortung trage. Die Zahlen waren gefälscht und es hat zu wenig Kontrolle stattgefunden. Ich habe immer gesagt, Griechenland gehört zu diesem Zeitpunkt nicht in die Wirtschafts- und Währungsunion. Das war ein großer Fehler und hat zu einer erheblichen Krise geführt.’
In Bezug auf Helmut Kohl: war es für Sie klar, dass diese EMU für ihm nur ein Schritt zur politischen Union war, ein Schritt zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Oder ist das eine falsche Aussage?
‘Helmut Kohl wollte eine stärkere politische Union: das eine war die ökonomische, das andere die politische Union. Da sind die Außenminister an ihre Grenzen gestoßen, weil ein Teil der Länder auf ihre Souveränitätsrechte nicht verzichten wollten. Und dann blieb natürlich als Ausgang eine Vertragsgemeinschaft.
‘Die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine Vertragsgemeinschaft, die auf der Einhaltung von Verträgen beruht. Es hat immerhin eine stärkere intergouvernementale Zusammenarbeit gegeben, also es hat Fortschritt gegeben, aber nicht so stark wie man es eigentlich erwartet hatte und nicht so wie es in den fünfziger und sechziger Jahren in den Programmen aller Parteien stand.’
Wie würden Sie ihre persönliche Beziehung mit Helmut Kohl beschreiben?
‘Ich hatte zu Helmut Kohl ein vertrauensvolles Verhältnis. Er hat mich absolut korrekt behandelt. Er hat die verfassungsrechtlichen Rechte des Finanzministers voll akzeptiert. Er hat nirgendwo eine Zusage finanzieller Art gemacht, ohne den Finanzminister miteinzubeziehen. Und wir standen in einem engen Kontakt.
‘Bei der Frage Stabilitätspakt, als er es zum ersten Mal dem Deutschen Bundestag vortrug, hatte er vorher Bedenken und rief mich in der Früh noch an. Dann las ich ihm vor, was ich später im Parlament vortrug. Er bemerkte nur: Ok, versuch’s mal.
‘Was den Namen anbelangt. Als ich äußerte, Euro wäre mein Vorschlag, meinte er, es werde sehr schwer, das durchzusetzen, aber sprich mit deinem französischen Kollegen. Er hat mich unterstützt und hat sich meiner Linie angeschlossen. Und er hat mich bei Auseinandersetzungen in Konferenzen nie im Stich gelassen, sondern konsequent verteidigt.’
Was waren für Sie seit 1992 die Schlüsselmomente, um dieser Währungsunion zu gestalten?
‘Ein Schlüsselement war damals, als wir uns geeinigt haben, die Bandbreiten für den Ecu zu erweitern, und damit das Auseinanderbrechen des EWS verhindert haben. Das zweite war der Stabilitätspakt 1996, der dann ein Jahr später in Amsterdam endgültig verabschiedet wurde. Der Dezember 1995, als ich den Namen „Euro“ vorgeschlagen habe, war auch ein Schlüsselmoment. Am Anfang stieß dies bei Chirac auf Ablehnung, wurde aber schließlich akzeptiert.
‘Dann war der entscheidende Moment als die Ergebnisse, der Ist-Zahlen des Jahres 1997 bekannt wurden. Ich habe damals darauf bestanden: entscheidend sind die Ist-Zahlen, nicht Schätz-Zahlen. Wir haben Anfang 1998 alle Zahlen bekommen, aus allen Ländern. Wichtig war für mich besonders Deutschland. Wie wird unser Staatsdefizit aussehen?
‘Da war mal nicht klar, ob es 3, 3,05, oder 2,9 Prozent sein würden. Es waren dann 2,7 Prozent. Das war für mich eine große Erleichterung. Und bei der Staatsschuld hat eine neuere Rechnung ergeben, wir waren unter 60, bei 59,7 Prozent. Das heißt, wir haben alle Kriterien erfüllt.
‘Geärgert hat mich, dass kurz danach das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin behauptete, die Zahlen können nicht stimmen, das deutsche Defizit betrage 3,4 Prozent. Das entfachte einen riesigen Ärger. Das Institut musste sich zwar später entschuldigen, aber das hat mir diese gute Nachricht an dem Tag verdorben.’
Was haben Sie gedacht als es die Währungsunion gab, und in 2003 – sie waren dann schon weg – haben gerade Frankreich und Deutschland die Regeln nicht eingehalten. Haben Sie gedacht, Mensch, das ist jetzt der Tod der Währungsunion?
‘Der Tod nicht, aber ich habe mich geärgert, weil ausgerechnet das Land, das den Stabilitätspakt durchgesetzt hatte, ihn verletzte. Dann gemeinsam mit Frankreich und Italien den Stabilitätspakt aufzuweichen, das war das falsche Signal, weil viele Länder sich sagten: Wenn Deutschland sündigen darf, dann dürfen wir auch sündigen. Das hat zu Misstrauen geführt und das Vertrauen in die gemeinsame Währung nicht gefördert.’
Aber das hat man dann doch nach der Finanzkrise korrigiert.
‘Man hat es nach der Finanzkrise wieder korrigiert und eingesehen, wie wichtig es ist, dass das Vertrauen der Finanzmärkte in die Stabilität der Finanzpolitik gegeben ist. Dazu gehören auch Regeln. Die Regeln muss man einhalten. Wenn man sie verletzt, muss man sagen, wir werden so schnell wie möglich versuchen, die Kriterien wieder zu einzuhalten.’
Das ist eigentlich noch immer die heutige Lage.
‘Die Länder waren ja auf einem guten Weg. Jetzt sind Corona und der Ukrainekrieg dazwischengekommen und haben die Situation nochmal verändert. Wenn das Vertrauen in die Finanzpolitik der Länder nicht mehr gegeben wäre, dann hätten wir schnell eine schwierige Situation. Insofern ist die Tragfähigkeit des Finanzsystems und der Finanzpolitik eine entscheidende Voraussetzung.’
Da muss noch einiges passieren, um die Währungsunion stärker zu machen?
‘Es gibt schon noch wichtige Punkte. Eine gemeinsame Bankenunion, eine gemeinsame Kapitalunion, eine stärkere Harmonisierung der Bemessungsgrundlage im Steuersystem. Vorher müssen die Banken ihre Kreditsituation in Ordnung bringen. Das sind wichtige Ziele, um zu einem gemeinsamen Kapitalmarkt und einer Bankenunion zu kommen.’
Letzte Frage, ist Europa ohne Euro überhaupt noch vorstellbar?
‘Ich glaube nicht. Wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt hat, wenn der Euro zerbricht, zerbricht Europa, ist dies wahr. Wir wären dann ein Spielball der internationalen Finanzmärkte. Bei dreißig verschiedenen europäischen Währungen hätten wir jeden Tag ein wildes Floaten. Wir wären ein Spielball des Dollars und des Renminbis. Europäische Währungen würden im internationalen System keine Rolle spielen.’
- 1Helmut Kohl, Erinnerungen 1982-1990 (Droemer 2005) 1012-1015, 1033.
- 2Zie ook de interviews met Cees Maas en Nout Wellink.
- 3Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine Politische Biographie (Deutsche Verlags-Anstalt 2012) 701.