
Curriculum vitae
Joachim Bitterlich
Geboren: 10 juli 1948, Saarbrücken
- 1966-1969 Kandidaat reserveofficier Bundeswehr
- 1969-1973 Studie rechten, economie en politicologie, Universität des Saarlandes
- 1974-1975 École Nationale d’ Administation, Parijs
- 1976 Staatsexamen jurist
- 1976-1987 Ambtenaar/ diplomaat ministerie van Buitenlandse Zaken Bondsrepubliek Duitsland (BRD)
- 1978-1981 Ambassade BRD in Algerije
- 1981-1985 Permanente Vertegenwoordiging BRD bij de Europese Gemeenschappen, Brussel
- 1985-1987 Kabinet minister (Hans-Dietrich Genscher)
- 1987-1998 Ambtenaar/ adviseur bondskanselarij
- 1987-1993 Hoofd afdeling Europapolitiek
- 1993-1998 Hoofd afdeling Buitenland-, Ontwikkelings- en Veiligheidspolitiek
- 1998-1999 Permanent Vertegenwoordiger Duitsland bij de NAVO, Brussel
- 1999-2002 Ambassadeur Duitsland in Spanje en Andorra
- 2000-heden Lid bestuur Jacques Delors Instituut
- 2003-2012 Veolia Environment, Parijs
- 2003-2012 Executive vice-president International Affairs
- 2009-2012 Voorzitter Veiolia Environment Duitsland
- 2008-heden Docent École Supérieure de Commerce de Paris (ESCP)
- 2013-heden Consultant
Publicaties
(selectie)
- Europäische Aufgaben bis zum Jahr 2000 (Konrad-Adenauer-Stiftung 1995). Coauteur: Rudolf Seiters
- Schwierig Nachbarschaft am Rhein: Frankreich-Deutschland (Bouvier Verlag 1998). Coauteurs: Ernst Weisenfeld en Werner Rouget
- Das Europa der Zukunft (Droste Verlag 2004).
- Europa – Mission impossible? Ein Beitrag zur aktuellen Europa-Debatte (Droste Verlag 2005).
- Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa – Erinnerungen eines Zeitzeugen (ibidem Verlag 2021).
Metadata
- Datum interview: 9 december 2021
- Locatie: Parijs
- Interviewer: Michèle de Waard
- Opname: niet beschikbaar
- Duur interview: 03.00.00 uur
- Commentaar geïnterviewde: verwerkt
- Publicatie interview: 7 december 2022
Joachim Bitterlich (1948) is een Duitse jurist en voormalig diplomaat en beleidsadviseur. Hij begon zijn ambtelijke loopbaan in 1976 bij het ministerie van Buitenlandse Zaken van de Bondsrepubliek Duitsland. Van 1985 tot 1987 was hij adviseur van minister van Buitenlandse Zaken Hans-Dietrich Genscher.
In 1987 stapte Bitterlich over naar de bondskanselarij. Als adviseur – ‘sherpa’ – van bondskanselier Helmut Kohl groeide hij in de periode 1987-1998 uit tot een van de meest invloedrijke personen binnen de Duitse diplomatie. Hij was nauw betrokken bij onder meer de instelling van het comité-Delors, dat in 1988 de opdracht kreeg om een blauwdruk te ontwerpen voor een Economische en Monetaire Unie, en de onderhandelingen over het Verdrag van Maastricht (1992) en het Verdrag van Amsterdam (1997).
Na het vertrek van Helmut Kohl als bondskanselier werd Bitterlich permanent vertegenwoordiger van Duitsland bij de NAVO (1998-1999) en ambassadeur in Spanje (1999-2002). In 2000 trad hij toe tot het bestuur van het Jacques Delors Instituut. In 2003 stapte Bitterlich over naar het bedrijfsleven en werd onder meer executive vicepresident internationale zaken bij Veolia Environment, een Frans bedrijf gespecialiseerd in water, energie en afvalverwerking. Sinds 2013 werkt hij als zelfstandig consultant.
Interview:
Lessen in hogere integratiekunde
Als rechterhand van Helmut Kohl was Joachim Bitterlich betrokken bij één van gevoeligste dossiers uit de Duitse naoorlogse geschiedenis: het opgeven van de D-mark, in het belang van Duitsland en Europa. Bitterlich vertelt hoe ze hierin slaagden – en waar het schuurde met Nederland. ‘De eerste ontmoeting met Wim Kok als premier was een weldaad.’
Michèle de Waard
Parijs, 9 december 2021. Joachim Bitterlich vertelt: ‘Ich bin gerade zurück aus Italien, dort habe ich in einem Kolloquium über Giulio Andreotti’s Rolle und die deutsche Einheit gesprochen. Das war schwierig, da ich Andreotti dargestellt habe als einen Skeptiker gegenüber der deutschen Einheit, fast so schlimm wie Lubbers. Ich habe ein Interview gefunden von Andreotti aus dem Jahr 1994, vier Jahre später, wo er sagte: wenn ich was zu sagen gehabt hätte, würde die Mauer heute noch bestehen. Seine Kernargumente waren natürlich die Erhaltung des ‘Europäischen Gleichgewichts’ und Italiens Rolle. Da waren deutsche Historiker dabei, italienische Historiker. Ja, daraus soll ein Buch über Andreotti – Italien und die deutsche Einheit.’
Hans-Peter Schwarz hat darüber ausführlich geschrieben in seiner Kohl-Biographie.1Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie (Pantheon Verlag 2014).
‘Stimmt, aber er war ein Skeptiker gegenüber Kohl’s Europa-Politik. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen mit Schwarz auf einem Podium zu sitzen in Paris und man hatte die Unvorsichtigkeit begangen mir vorher sein Buch zu schenken. Darauf habe ich nur die Passagen des Buches genommen über Kohl – Europa und den Euro. Und schon eine ganze Reihe, vielleicht ein Drittel aller Zitaten waren nicht korrekt. Eine Todsünde. Ich hab ihm gesagt: bei der zweiten Auflage bitte die Zitate prüfen.’
Sie arbeiteten damals in den siebziger und achtziger Jahren für das Auswärtige Amt. Was war der große Unterschied zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundeskanzleramt, wo Sie im Jahre 1987 angefangen haben bezüglich der EU- Politik?
‘Natürlich, das Auswärtige Amt gab sich immer progressiv in der Europapolitik, mit Hans-Dietrich Genscher. Aber auch schon vorher. Nur Genscher war halt Mitglied einer Koalition, in der er auch mit dem Partner reden musste. Und Genscher suchte mit der FDP immer eine gewisse Vorreiterrolle in der Europapolitik zu unterstreichen. Kohl hatte das nicht notwendig. Kohl hat natürlich darauf geachtet, aber aus seiner Sicherheit heraus gelenkt, und die Leitlinien der Politik geführt. So hat Kohl in gewissen Dingen Genscher laufen lassen, weil er sich bewusst war: Genscher braucht das für seine Partei. Divide e impera, alter Grundsatz.’

In welchem Bereich hat es große Unterschiede gegeben? Waren Kohls Ideen über die europäische Integration damals in 1987 schon so ausgeprägt?
‘Ja, es gab gewisse Unterschiede und unterschiedliche Sensibilitäten. Ich nenne als Beispiel bewusst die Idee der Politischen Union, ein Begriff, den Kohl 1988/89 gesetzt hat. Und zwar, ich werde es nie vergessen, ich hab für Kohl 1988 eine Rede geschrieben für die Katholischen Konferenzen in Brüssel wo ich erstmals die Vorstellung der Vereinigten Staten von Europa in Zweifel gezogen habe. Kohl stimmte mir zu, er sagte, ich hätte recht denn man verwechsele dies dann mit den Vereinigten Staten von Amerika. Europa werde nie Amerika sein. Das ist was anderes.
‘Aus dieser Vorstellung heraus hat Kohl dann im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) den Begriff der Politischen Union gesetzt. Ich habe erstmals diesen Begriff verwandt in Briefen an François Mitterrand. Und zwar in November 1989. Der Begriff Politische Union stammt von Kohl. Ich habe versucht Kohl zu gewinnen für den Delors-Begriff, die EU als Föderation der europäischen Nationen. Aber Kohl hielt mir entgegen, und zwar zurecht, das die große Mehrheit der anderen Europäer den Begriff Föderalismus nicht begreifen. Die meinen etwas anderes.
‘Das Interessante ist der Bezug zur heutigen Zeit. Im Koalitionsvertrag in Berlin steht drin: wir wollen ein föderales Europa. Für die Pariser ist das eine Zumutung. Ich hab Anrufe deswegen reihenweise aus Paris bekommen. Ob die das ernst meinen? Was wollen die? Um Gottes willen, so ungefähr.
‘Die Grünen haben diese Zielsetzung eingeführt, und zwar der pragmatische pro- europäische Teil der Grünen. Manche Grünen können aber damit auch nichts anfangen. Sie verstecken sich hinter Europa.’
Aber die Empfindlichkeiten in Paris haben Sie nicht gespürt?
‘Es war denen egal. C’est un contrat de coalition und das Interessante ist in den ganzen 177 Seiten kommt der Begriff Frankreich einmal vor, plus einmal der Begriff deutsch- französisch, dagegen fünfzehn Mal Polen und ich weiß nicht wie oft kommt Europa vor. Das ist für einen Franzosen schwer verständlich.
‘Und damals hat Kohl halt diesen andern Begriff geprägt, Politische Union. Und er meinte damit eine Mischung, er wollte etwas parallel setzen zur Währungsunion, ja auch zur Absicherung der WWU in Deutschland und generell. Politische Union meint ein echtes europäisches Parlament mit entsprechenden Rechten, eine gemeinsame europäische Innen- und Justizpolitik, Polizei, Migration, Außengrenzen. Die Schaffung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehörte dazu.
‘Aber bei Kohl war das nie im Einzelnen fixiert. Elemente wie eine Verbesserung und effizientere Steuerung der Institutionen waren für ihn Teil seiner Überlegungen. Ein Beispiel: Kohl hat sich nie festgelegt in Bezug auf die Zahl der Kommissare. Es gab wunderschöne Debatten bei den Konsultationen zwischen Jacques Chirac und mir über die Zahl der Kommissare. Kohl griff nie ein, nur am Schluss war es dann immer Kohl, der Eingriff und meinte: ich sehe, ihr beide seid ja auch letzlich nicht einig. Lass das lieber mal sein, dann müssen wir mal schauen, was daraus machen kann. In der Sache habt ihr recht, es sind zu viele Kommissare. Es geht darum, wie wir das hinbekommen können.
‘Das ging damals so weit, dass Kohl die Frage stellte: Jacques, seid ihr bereit auf einen französischen Kommissar zu verzichten? Gemeine Frage. Und dann, ok, schlechte Idee. Dann kam die Gegenfrage: Helmut, bist du bereit? Und Kohl sagte, wenn es darauf ankommt, ja! Das waren dann die Unterschiede.
‘Ich lancierte damals die Idee, dass die kleineren Mitgliedstaten die gleiche Zahl der Kommissare wie die Großen bekommen sollten. Damals waren die Polen noch nicht dabei, also 4 plus 4, oder 5 plus 5. Dann war immer die Frage, in welche Gruppierung stellt man die Holländer. Und die Vorstellung, die Großen bekommen je einen Kommissar und die Kleineren rotieren untereinander. Das waren so einige Ideen. Aber Kohl hat sich níe festgelegt.
‘Für ihm war Politische Union im Grunde der Sammelbegriff als Pendant zur Wirtschafts- und Währungsunion. Man muss wissen, Kohl interessierte sich für Innen- und Justizpolitik, für Grenzfragen, Schengen, Umsetzung Schengen auf europäischer Ebene, Grenzkontrollen nach Außen, Schutz der Außengrenzen, gemeinsame Immigrationspolitik, gemeinsame Asylpolitik, gemeinsame Austausch von Informationen, Europol. Ich hab damals alle diese Papiere für ihn geschrieben, entwickelt in kleinsten Kreis, ohne das der deutsche Innenminister davon wusste, oder ohne dass der deutsche Außenminister davon wusste.
‘Kohl sagte, die brauchen es nicht zu wissen, das interessiert die ja auch nicht. Er ließ mir sehr viel freie Hand. Genscher baute viel mehr auf bestehenden Elementen wie die Fortentwicklung des Genscher-Colombo-Plans. Genscher war aber auch nicht feindlich gegenüber neue Ideen.
‘Er war da offen. Beispiel. Frühjahr 1988, in März als Balladur die Idee einer Währungsunion aufgriff, dahinter steckte die Idee mit der Parallelwährung, sprang Genscher mit auf den Zug. Kohl ließ ihn laufen. Er hat nur hinterher gemeint nach dem Motto: hier muss Genscher aufpassen, ist ja in Deutschland ein ganz gefährliches Thema, hoch sensibel, bei der FDP, und vor allem auch bei der CDU: Aufgabe der D-Mark, und, und, und. Und Kohl hat daher die Kontrolle an sich gezogen in Juni 1988 in Hannover, und ich hatte dann die Aufgabe, diesen Prüfungsauftrag zusammen mit Jacques Delors und Pascal Lamy in Schlussfolgerungen zu gießen. Das war das Delors-Komitee. Aber das war Kohl. Das war nicht Genscher.’
Er wollte das?
‘Kohl wollte das. Kohl war einverstanden damit, aber nicht um jeden Preis. Er musste, sagte er immer, verflucht aufpassen, weil das gesamte Zentrum und die Rechte in Deutschland der D-Mark eine überhöhte Stellung beimessen, sie existierte vor der Verfassung, vor dem Parlament, vor der Existenz der Bundesrepublik. Sie war das Symbol für den Wiederaufbau Deutschlands, die Wiederauferstehung Deutschlands, das muss man im Kopf haben. Daher war für uns, in die Mannschaft um Kohl, immer klar, eine Europäische Währungsunion gibt es nur um den Preis, dass Europa im Grunde unser System übernimmt. Also die Europeanisierung der D-Mark.’
Wie es letztendlich eigentlich gekommen ist.
‘So ist es. Das haben wir dann Stück für Stück eingeführt. Aber auch nicht mit dem Holzhammer, sondern sehr, sehr nuanciert. Daher dann auch, als Delors in Hannover die Idee geboren hat, dieses Komitees mit Unterstützung der Notenbankpresidenten zu bilden. Karl Otto Pöhl war damals für Deutschland dabei. Das erstaunliche war aber, als ich zurück kam in der Nacht von Delors und morgens Kohl den Entwurf der Schlussfolgerungen zeigte, er war der Präsident des Europäischen Rats, sagte er mir nur: reden Sie mit Herrn Hans Tietmeyer, dem Staatssekretäre für Finanzen, ob er damit einverstanden ist. Und Tietmeyer hat drei weise Wörter hinzugefügt: die Notenbankgouverneure á titre personnel – auf persönlicher Grundlage. Sonst war er einverstanden mit dem Text, mit allem Dingen in Loyalität gegenüber Kohl, obwohl er in Wahrheit ein Skeptiker war. Aber er war loyal. Aber mit diesem ‘auf persönlicher Grundlage’ war Pöhl gegenüber dem Zentralbankrat, gegenüber den Falken, den Hardlinern, war er frei und konnte sagen, was er für richtig hielt. Das war ein Schlüssel für die gesamten Debatte im Delors-Komitee. Das war sehr klug von Tietmeyer.’
Mit wem arbeiteten Sie im Bundeskanzleramt zusammen bei der Europapolitik?
‘Ganz einfach. Mein direkter Chef war Horst Teltschik. Dazwischen stand Peter Hartmann, aber ich hatte nach ungefähr sechs Monaten die Möglichkeit der direkt Vorlage beim Bundeskanzler. Er musste Vertrauen fassen und rief mich oft direkt an, fragte nach Dingen, wollte Dingen wissen.
‘Ich hab in der Folge dann versucht, manche Traditionen zu verändern. Ich habe zum Beispiel eingeführt, was ich an die ENA in Paris gelernt hatte, den berühmten One-Pager. One page für den Kanzler. Für ihn ein Wohltat. Helmut Schmidt las 40 Seiten Texte, Regieanweisung für die Europäische Rat. Und Kohl bekam von mir der Europäischen Rat auf einer Seite in Stichworten, hinzu kamen als Anhang die einzelnen Punkte der Tagesordnung, die Erläuterung des Problems, die notwendigen Papiere. Und je nachdem ob er Zeit hatte, las er den Rest auch und stellte mir Fragen.
‘Und mit Kohl konnte ich viel stärker als mit Genscher flexibel, angepasst an die jeweilige Lage arbeiten, das Auswärtige Amt war hierarchischer in diesen Dingen. Nur in Ausnahmefällen habe ich für Genscher Vorlagen, Papiere geschrieben, ohne mit dem Haus zu sprechen. Erst später, als ich schon länger bei Kohl war, konnte ich direkt mit Genscher reden. Auch nach seinem und später meinem Ausscheiden, sehr direkt, sehr offen.
‘Aber mit Kohl konnte ich Brainstormings machen. Als ich dann Leiter war, Kohl nannte mich manchmal den Sklaventreiber, weil ich ihm am Freitagmittag fürs Wochenende eine Seite mitgab, manchmal handschriftlich mit Fragen, strategischen Fragestellungen, für die ich einfach seine Auffassung brauchte, um weiter zu arbeiten.
‘Oder in der Frühphase Maastricht habe ich ihm einmal ein 15 Seiten Papier gegeben, ähnlich vor Amsterdam, es waren Ideen, ein Ideenkatalog von Prioritäten und zum Teil neuen Vorstellungen.
‘Kohl hat das geliebt. Hat es am Wochenende gelesen und am Montagmorgen passierte immer das gleiche. Seine Sekretärin rief mich an und sagte, halt bitte den Abend frei. Dann wusste ich genau, was kommt. Kohl wollte mit mir über das Papier diskutieren und zwar in kleinsten Kreise. Da war Schäuble nie dabei.’
Wie klein war der Kreis?
‘Oft Kohl und ich, öfters war Johannes Ludewig dabei, wenn es um wirtschaftliche Dinge ging. Teltschik bis zu seinem Ausscheiden manchmal, er war nicht der Europäer bei uns. Hartmann war manchmal dabei, aber nicht immer. Aber mit Kohl konnte man regelrecht laut nachdenken, streitig diskutieren über Politik. Das habe ich mit Genscher erst später erfahren.’
Gab es einen (großen) Unterschied zwischen ihren Ideen und den von Kohl über die europäische Integration?
‘Das kommt darauf an. Es gab Ideen meinerseits, von denen Kohl sagte, das geht nicht, ich bin nicht überzeugt davon, vielleicht später. Ich zitiere immer ein Beispiel: eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, so wie wir sie damals mit Hubert Védrine, mit Sophie-Caroline De Margerie zusammen weniger mit Élisabeth Guigou, entwickelt haben. Kohl hat sie alle unterschrieben, alle. Aber immer mit dem Hinweis: ich unterschreibe das und halt es am Ende für richtig, nur ihr müsst darauf gefasst sein, das dieses am Ende der Integration kommt, nicht am Anfang. Außenpolitik wird das schwierigste sein in den ganzen europäischen Einigung.
‘Dasselbe ist: was hat Kohl gehalten vom niederländischen Entwurf – 1991? Die eine Säule statt drei. Und, pardon, wir haben den Entwurf gar nicht gesehen. Dieser Entwurf kam bei den Außenministern, das war einer der Fehler der Holländer, ja. Die haben das den Außenminister direkt vorgelegt.’
Hans van den Broek?
‘Ja klar. Und anstatt dass Ruud Lubbers den Vorschlag direkt Kohl übermittelt bitte schau dir das an, das ist für uns wichtig, bitte hilf uns flankierend, wenn Du kannst und, und, und. Das hatte Hans im Rat der Außenminister eingeführt. Und Genscher hat sich im Rat taktisch verhalten, und das hat die Holländer enttäuscht. Kohl war nie festgelegt, ob es eine Säule, zwei oder sechs Säulen sind. Das war Kohl letzlich egal. Kohl war Pragmatiker. Die Holländer haben dieses Thema leider ideologisch forciert, l’ Europe communautaire.
‘Und Kohl war sich sicher, dass das nie laufen wird. Ich auch. Und Genscher war in jeder Beziehung ein reiner Taktiker. Klug letzlich, indem er schwieg. Genscher ließ das laufen und wollte sehen, in welche Richtung die Mehrheit läuft. Und nachdem er merkte, dass die Franzosen voll dagegen sind, dass anderen skeptisch sind, hat er im Rat geschwiegen. Für uns war es nicht entscheidend, ob es ein oder mehrere Pfeiler würden. Daraufhin war Hans van den Broek beleidigt, tief beleidigt. Die Holländer haben von Krise gesprochen, das war Quatsch!
‘Genscher war ein reiner Taktiker. Wir waren nicht festgelegt insofern. Natürlich, wenn ich deutsche Politik nehme, wäre es am schönsten gewesen, wenn wir l’Europe communautaire durchgesetzt hätten. Aber Kohl war pragmatisch und realistisch genug, um zu begreifen, dass das so nicht laufen wird. Er hat mir bedeutet, er habe nicht begriffen, warum die Holländer sich so darauf versteift hätten, wo sie doch genau wussten, dass das nicht laufen kann. Und meine Antwort war: die Holländer wollten den Preis hochtreiben und möglichst viel communautaires durchsetzen, weil das ihre Überzeugung war gegen das Zwischenstaatliche. Richtig, aber man muss in diesen Dingen realistisch sein. Zusammengefasst meine ich, Genscher war zumeist ein Taktiker, Kohl ein Stratege.’
Kohl wusste doch auch, dass Mitterrand gar nicht interessiert war an einer Politischen Union?
‘Das war aus meiner Sicht eine der schwierigsten Weichenstellungen vor Maastricht. Mitterrand wollte auf die schnelle die Wirtschafts- und Währungsunion durchsetzen. Als der Umbruch im Osten kam, angefangen mit Polen, Ungarn, dann auf die DDR überschwappend, dann wollte er im Grunde als wesentlichen Punkt seiner Präsidentschaft 1989 die Einleitung der Wirtschafts- und Währungsunion mit Eckdaten einleiten.
‘Und Kohl sagte, ich bin einverstanden mit dem Ziel, aber das Thema ist so ernst, so sensibel, es muss daher sehr genau vorbereitet und umgesetzt werden, wir brauchen dafür Zeit, erstens. Und zweitens, Kohl sagte, wir können nicht einseitig nur die Währung durchziehen, ohne das politische in gleicher Weise. Daher haben wir im Brainstorming mit Kohl letzlich diese Idee der Parallelität erfunden der beiden Konferenzen mit dem beiden großen Themenblöcken. Einerseits Wirtschaft und Währung, andererseits die politische Union.
‘Das war in November 1989, parallel zudem zu all dem, das in Ost-Deutschland ablief. Das war das spannende jener Zeit. Damals redigierte ich die Briefe an Mitterrand zum Thema Politische Union über die natürlich der Élysée nicht erfreut, ja entsetzt war. Die dachten, um Gottes willen, Kohl will in Wahrheit nicht, er will nur die Wiedervereinigung. Darauf waren sie nicht vorbereitet in Frankreich. Die waren in ihrem strategischen Nachdenken nicht so weit wie wir. Obwohl sie wissen mussten in welche Richtung Kohl steuerte. Wir waren ein Stück weiter, wir dachten letzlich schon an die Idee eines gemeinsamen Daches für die europäische Integration. Und die Franzosen am Anfang haben gedacht, Kohl will nur die Wirschafts- und Währungsunion sabotieren. Das war der Glauben der Pariser.
‘Ich habe ihnen immer gesagt, das ist zu Unrecht. Kohl will die Währungsunion, aber nicht um jeden Preis, sondern nur so, dass er sie auch zu Hause vertreten kann. Und daher braucht er auch parallel die entsprechenden Fortschritte in Sachen Politische Union.
‘Dann ist es interessant, Mitterrand hat dies eingesehen im Januar 1990, das ist der berühmte Spaziergang von Latché, wo Mitterrand seinen Landsitz hatte. Dort hat Kohl ihm unter vier Augen erklärt, was er meinte, wie er sich die Entwicklung der EU vorstellte. Kohl war nie fixiert auf ein föderales Europa. Kohl wollte das Europäische insgesamt so festmachen, dass es kein Rückwärts mehr gibt. Inhalte waren für Kohl nicht zweitrangig, aber zugleich Mittel zum Zweck. Wichtig war es für ihm, klare Zeichen zu setzen. Wir haben nicht alle unsere Vorstellungen durchsetzen können.
‘Mitterrand hat das akzeptiert. Das war die Politische Union bezogen auf die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, bezogen auf Innen- und Institutionen generell. Das haben sie dann akzeptiert und das ist dann die deutsch-französische Initiative entstanden im März 1990 für den Sonder-Europäischen Rat in Dublin im April 1990.
‘Sie haben es letzlich akzeptiert. Und wir haben dann mit Hilfe der Italiener die Parallelität der beiden Konferenzen erreicht. Und Mitterrand ließ es dann irgendwann laufen, auch wenn er vielleicht nie innerlich überzeugt war.’
Lubbers hat mal gesagt, dass während eines Gespräches mit Mitterrand in Paris, auch Van den Broek war dabei, über die Politische Union, er geantwortet hat: die Europäische Kommission est zero, das Europäische Parlament est zero, zero et zero c’est zero.2Bob van den Bos, Mirakel en Debacle. De Nederlandse besluitvorming over de Politieke Unie in het Verdrag van Maastricht (Van Gorcum 2008) 322. Dann waren beide Holländer ziemlich verblüfft.
‘Moment, Mitterrand hat von die Kommission niemals wirklich etwas gehalten. Das war der Grund. Pardon, der größte Verteidiger von Jacques Delors in Paris hieß Kohl. Das darf man nie vergessen. Die Wiederwahl von Jacques Delors für die zweite Periode, das war Kohl. Delors kam nach Kohl, 1990, und sagte, ich bin mir nicht sicher, ob Mitterrand einverstanden ist mit meiner Verlängerung. Kohl’s Antwort: gut, Bitterlich, wir reden mit ihm darüber. Dann hat er im kleinen Kreis, in dem wir immer waren, gefragt: François, was machen wir mit Jacques Delors. Mitterrands Antwort: was meinen Sie denn Helmut? Und Kohl: wir verlängern Delors – Wenn Sie meinen, machen wir das. So wurde Delors verlängert.’

Wenn wir uns die Berater Kohls anschauen, gab es auch Personen im gesellschaftlichen Bereich, denen er zuhörte, oder aus der Finanzelite – Alfred Herrhausen, oder die Brüder Ramstetter?
‘Nein, die Brüder Ramstetter, vor allem der Geistliche, haben eine gewisse Rolle gespielt in sozialen, in gesellschaftspolitischen Fragen, zum Beispiel in Bezug auf die Flüchtlingskrise aus ex-Jugoslawien. Aber nie in Sachen Europa. Nie. Die Ramstetter- Brüder waren für Kohl wichtig, weil er dadurch ein Einblick bekam, in das, was denkt die katholische Kirche an der Basis. Kohl hat vielen Leuten zugehört. Interessant, sagte er manchmal, prüfen wir Mal. Er hatte seine persönlichen Überzeugungen, aber war offen für neue Ideen, für Brainstorming. Zum Beispiel hat das Auswärtige Amt uns immer genervt mit der Idee von Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Kohl hat das nie vertreten.
‘Ich dachte anders, auch in bezug auf die Umsetzung, von den anderen Seite her, ich war mehr den Gedanken Kerneuropa oder der ‘Pioniergruppe’ nah.’
Zwei Geschwindigkeiten?
‘Ich nenne das lieber eine géometrie variable, weil ich immer weniger davon überzeugt war dass wir zu 20 und mehr das gleiche machen können wie zu 12, zu 14, selbst zu 15. Dazu brauchte es andere Ansätze.
‘Zwei Geschwindigkeiten? Ich habe immer gesagt, das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist Unsinn. Europa war immer mit mehrere Geschwindigkeiten unterwegs wegen Übergangszeiten und Sonderfällen.
‘Kerneuropa war einer meiner Differenzen mit Karl Lamers und Wolfgang Schäuble. Die Idee war aber nicht falsch, da war viel richtiges dran. Ich hätte es nie so apodiktisch streng formuliert, aber mit mehr Offenheit. Das haben wir dann im Vertrag von Lissabon herein gebracht.
‘Und dazu kam Schäuble-Lamers damals zum falschen Zeitpunkt. In September 1994, knapp vor der Bundestagswahl, mitten in der deutschen EU-Präsidentschaft, bringen sie das Kerneuropapapier heraus. Halb Europa war gegen uns, die Kommission entsetzt. Mir sagten damals Kommissare, seid ihr von allen guten Geistern verlassen. Ich hab dann immer geantwortet: das ist die Freiheit des Parlamentariers. Wir haben ein aktives Parlament.
‘Ich habe damals dem Bundeskanzler eine Analyse vorgelegt, vieles ist richtig in dem Papier, aber bitte nicht jetzt. Lamers war beleidigt, Schäuble ebenfalls. Aber Kohl hatte gar keine andere Wahl als sich davon zu distanzieren. Das war ein typischer Kohl wiederum. Er sah ein, wie ich, dass wir irgendwann zu einem Europa ‘á géometrie variable’ kommen müssen. Es geht gar nicht anders. Aber das war das falsche Mittel zum falschen Moment. Dieses Kerneuropa das bedeutet ja automatisch, das sind die sechs zusammen und der Rest zählt nicht.
‘Mich rief selbst Felipe González an und sagte, spinnt ihr. Wo sind wir? Ich musste ihm erklären: Felipe nimm das nicht zu ernst. Aber es war wieder ein typischer Kohl, der in diesen Dingen nie absolut festgelegt war. Aber sein spanischer Freund Felipe war wichtig für ihn!
‘Ein Beispiel aus dem Papier der neuen Koalition in Berlin. Das Initiativrecht des Europäischen Parlaments. Wir haben das vertreten, Kohl, im Vorfeld von Amsterdam und in Amsterdam. Wir haben diese Idee immer vertreten, nur Kohl sah, dass er nicht darauf bestehen durfte, weil anderen dagegen waren. Darum hat er es nie durchgesetzt. Es war mehr Taktik.’
Was sahen Sie und Kohl in diese Zeit, 1988-’89, als Bedrohung für das Europaprojekt? Das Aufgeben der D-Mark war gewiss ganz peinlich.
‘Die Wirtschafts- und Währungsunion traf uns in gewisser Weise. Auch wenn es ein Wiederaufleben früherer Ideen war, wussten wir genau, wie sensibel das Thema ist. Wir hatten damals wenig Abstimmung in der Koalition übers Thema. Wir hatten aber sofort im Bundestag Gegnerschaft dazu. Und wir mussten erstmal unsere Gedanken darüber entwickeln, Stück für Stück. Und von daher war das Delors-Komitee nützlich als erster Schritt.
‘Dann zweitens ein Mandat zur Aufbereitung, es war auch abgesichert, ohne Festlegung. Die nächsten Festlegungen kamen dann erst in der Reflexionsgruppe und in den Verhandlungen in Maastricht, wo wir dann, die deutschen ‘Bedingungen’ eingebracht haben, bis hin später zum Namen und zum Sitz Frankfurt. Für Kohl war diese Symbolik wichtig, er befürchtete halt auch dass er in der CDU zuviele Gegenstimmen haben würde. Vor allem in der CSU-Fraktion.
‘Teile der CDU, CSU, aber auch Teile der SPD, Teile der FDP waren mehr dagegen als dafür. In Wahrheit, wir hatten keine Mehrheit. Nur, die Gegner waren nicht uniform, es war difuz. Es gab in der CDU, einen deutsch-nationalen Flügel, Dregger, die Hessen. Koch gehörte zum Teil auch dazu. In 1994 habe ich noch mit Koch gestritten über das Europa-Parteiprogramm, das ich damals im Auftrage Kohls mitschreiben musste. Ich musste, sag Mal, Koch verhindern und dafür sorgen das es offen blieb. Die Offenheit Deutschlands sicherstellen. Das wir bereit waren mit der Mehrheit mit zu gehen.
‘Aber wir mussten gleichzeitig, und das war schwierig für Kohl, die Mehrheit in Deutschland sichern. Für die Deutschen war die Aufgabe der D-Mark nicht selbstverständlich. Sichergestellt werden musste, dass der Euro nich schwächer als die D- Mark sein würde.’
Wer in der CSU waren die wichtigsten Kritiker?
‘Ich nehme mal ein Beispiel dazu. 1997/ 1998, als es darum ging, ob Kohl nochmal kandidieren solle. Kohl war darauf aus, es Schäuble zu übergeben, trotz des Rollstuhls. Und dann kam die Sperre seitens der CSU. Die CSU, hat Kohl klargemacht gesagt, sie sei nur bereit, die Währungsunion zu verteidigen mit Kohl an der Spitze, nicht mit Schäuble. In den Gesprächen zwischen CDU und CSU war das auf einmal in einer Schärfe klar, dass Kohl einfach um sein Projekt zu verteidigen, kandidieren musste. Entgegen dem, was er der Familie versprochen hatte. Kohl hatte, dass wusste ich von seiner Frau, 1997 versprochen, nicht mehr zu kandidieren und es Schäuble zu übergeben. Das war die Abmachung mit der Familie. Und um die Währungsunion durchzubringen, letzlich, um nicht auf einmal dass die CDU/CSU in einem Bundeswahlkampf gespalten erscheint, die einen dafür, die andern dagegen, das wäre eine Spaltung gewesen auch quer durch die CDU, musste Kohl bleiben und dahinter stehen.
‘Damals haben wir zum Beispiel eines gemacht, es waren regelrechte Programme für die Werbung zugunsten des Euro, die wir gemacht haben zusammen mit der Kommission. Die Kommission hat das in eigener Verantwortung gemacht, natürlich in enger Abstimmung mit uns. Die Werbeprogramme des Euro, eine Art Vulgarisierung des Euro. Das war höchst sensibel. Aus meiner Sicht eine der besten Leistungen der Kommission – unter Leitung eines französischen Kommissars, Yves-Thibault de Silguy. Heute hat sich das gelegt, die Deutschen haben den Euro voll akzeptiert – außer der AFD.’
Und wie war die Lage in Frankreich?
‘Auch Frankreich war sich nicht einig. Ein Giscard d’Estaing war dafür, selbstverständlich. Ein Mitterrand hielt sich Giscard vom Leibe. Giscard suchte Alternativbeschäftigung im Europäischen Parlament. Die UDF war dafür, wobei die UDF auch nicht hinter dem Gedanken stand einer unabhängigen Zentralbank. Das war eines dieser Kernthemen für uns. Die Franzosen versuchten uns ein Namen aufzuerlegen, der hieß Ecu. Wir wollten alles, nur nicht einen Ecu. Gottseidank ist dann später die Idee Euro entstanden.’
Mit wem hatten Sie in dieser Zeit engen Kontakt?
‘Der engste Kontakt war im Élysée in der Zeit. Auf der einen Seite mit Hubert Védrine, Außen- und Sicherheitspolitik, und daneben, zunächst Élisabeth Guigou, Europa-Beraterin von Mitterrand, ihr folgte nach Sophie-Caroline de Margerie. Das Außenamt, le Quai, spielte mit. Das war es.
‘Am weitesten war ich damals mit Sophie-Caroline de Margerie und Hubert Védrine. Ich weine heute noch über unser Konzept der Außenpolitik. Wir waren damals weiter als Maastricht, und weiter als Amsterdam. Ich frage mich bis heute, warum haben die Außenministerien dieses Konzept kaputt gemacht – aus einem falsch verstandenen Egoismus, weil sie dachten, man gehe ihnen ans Leder. Wir schafften die Außenminister ab. Quatsch. Wir wollten sie erhalten, unbedingt. Aber es waren halt nicht die Außenminister und deren Apparate, die dahinten standen. Sie haben es letztlich sabotiert, sie haben einfach nicht verstanden, dass die Zeit eine andere geworden war. Dass wir mehr Gemeinsamkeit in Europa brauchten.
‘Genau wie die Innenminister. Das waren die beiden Saboteure, die wenig zugelassen haben. Alle, die mit höchster Skepsis der europäischen Einigung gegenüber standen. Und wichtig war auch, dass sich für das Thema Innere Sicherheit die Außenminister, die generell federführend waren, nie interessiert haben. Das Auswärtige Amt hat sich für das Thema Innere Sicherheit, für Schengen in Wahrheit nie interessiert. Genscher hat sich nie eingemischt, weil die Innenpolitik war besetzt bei der FDP vom linken Flügel von Baum und Hirsch. Und mit Baum und Hirsch konnte Genscher nicht.
‘Für uns, für mich, war es höchster Zeit, wir konnten nicht die Grenzen öffnen ohne die Vertiefung der Polizei-Zusammenarbeit. Wenn ich mich bedenke dass die Innenminister sich gestern, dem 8. Dezember 2021, verständigt haben auf die Grundnormen für eine Europäische Asylagentur, weiß ich nicht, ob ich laut lachen oder weinen muss. Das hätte vor dreißig Jahren kommen müssen. Da sieht man die Blockaden.
‘Oder wenn ich heute nochmal lese in meinen damaligen Papiere mit Védrine, aus denen die deutsch-französische Initiative 1991 entstand, die im Vereinigten Königreich und auch in Holland als Hochverrat an der NATO gedeutet wurde, wenn ich die Initiative über die militärische Zusammenarbeit wieder lese, sage ich: hätten wir das doch so gemacht, dann wären wir heute viel weiter.
‘Sie sehen die Schwierigkeiten und Unterschiede, die es gab, auch in Gefolge einer Regierung. Die französischen Innenminister waren immer distanziert. Ich habe 1991 den Franzosen vorgeschlagen, gemeinsame Streifen der Polizei zu bilden, 50 Kilometer beiderseits der Grenzen. Darauf hin kam die entgeisterte Antwort: Ein deutscher Polizist auf französischem Boden? Das geht nicht. Heute gibst das. Selbst mit Polen, mit Holland. Der Druck ist entstanden durch Terrorismus. Das war der einzige Druck, der uns in diesen Dingen weitergeholfen hat, später, spät. Aber es ist halt nie zu spät.
‘So habe ich auch in meinen Papieren gefunden, dass ich vor einigen Jahren vorgeschlagen habe, ein European Monetary Fund zu schaffen. Für mich wäre dies heute die richtige Antwort als Konsequenz und nächstem Schritt nach dem European Recovery Fund. Die Deutschen werden nicht dafür sein, dass man daraus eine permanente Struktur macht. Aber wenn man den Deutschen sagen würde, ist es nicht an der Zeit, dass wir aus der Regling-Behörde und aus den European Recovery Fund ein European Monetary Fund machen, analog dem IMF, der auch beschränkt in der Lage ist Geld aufzunehmen am Markt, gebe ich Ihnen eine Wette. Die Deutschen werden Ja sagen. Das ist der goldenen Ausweg.
‘Mit einem Europäischen Währungsfonds hätten wir uns die ganze griechische Geschichte sparen können. Mit Kohl konnte man diese Dingen durchdiskutieren. Das war der Vorteil Kohls gegenüber anderen. Mit Merkel war das eine andere Art von Denken, ein anderes Herangehen.
‘Ich habe gestern im französischen Rundfunk offen gesagt, die Merkel-Bilanz ist gemischt. Sie war eine Krisenmanagerin, aber eine sehr Konservative. Die große Wurf war nie Ihre Sache. Sie hat in Deutschland alle Reformen erfolgreich verhindert. Sie hat Ihre eigene Partei zerstört. Die Bilanz ist daher gemischt.
‘Es war natürlich eine andere Zeit. Aber unsere Zeit war doch genau so krisenbehaftet. Wir hatten die unsichere Entwicklung und Demokratie in Ost-Europa, die alle wackelten. In Polen, Ungarn, Rumänien. Und dazu, Russland wackelte, und zwar ganz erheblich. Wir haben uns oft gefragt, hat Jelzin ´den Laden´ noch unter Kontrolle? Und die Amerikaner, Bush Sr. war gut mit uns. Clinton hat dann Stück für Stück verstanden, was wir meinten, und wir arbeiteten sehr eng zusammen. Das war natürlich eine Führungsrolle ohne es zu zeigen.
‘Da war ein Delors für Kohl wichtig. In manchen Dingen ging ein Delors für ihm zu weit. Beispiel. Delors war aber einer der ersten, der sagte, die Kommission wird die Deutsche Einheit unterstützen. Und wir werden daher die Finanzierung, die Umstrukturierung in den neuen Bundesländern aus dem Haushalt der Gemeinschaft finanzieren. Da sagte Kohl: stop, nein. Wenn das kommt, werden alle auf uns schimpfen nach dem Motto: die Deutschen machen es egoistisch. Ihr müsst uns begleiten, auch kontrollieren, uns helfen, aber die Finanzierung muss in erster Linie von uns kommen. Bitte Jacques, das wäre sonst ein Fehler.’
Was hatte Kohl genau vor mit dem Komitee-Delors (1988-1989)? Was sollte herauskommen?
‘Die Idee stammte von Delors selbst, auch die Zusammensetzung des Komitees. Kohl hat mitgezogen, das kann laufen, außer Thatcher die skeptisch war. Kohl war ergebnisoffen, wobei er langsam aber sicher in den Kopf bekam: Achtung! Thema hoch sensibel. Ich muss aufpassen auf jedes Wort in diesen Texten, damit das nicht in den falschen Hals gerät in Deutschland. Kohl war sich das Risikos des ganzen voll bewusst, aber er hatte dann noch der anderen Seite. In Pöhl war sein Vertrauen sehr beschränkt. Aber dadurch, dass es à titre personnel war und aus dem Finanzministerium ein gewisser Einfluss kam. Damals Köhler, Haller, Stark und eine ganze Gilde von jungen Beamten, die da hilfreich waren.’
Hat Kohl wirklich gedacht dass zehn Jahre später die Euro da sein wurde? Wie ernst nahm er den Verzicht auf die D-Mark?
‘Kohl wusste nicht, ob dieses Unternehmen gelingt. Wir auch nicht. Das war das sensibelste Unternehmen in der ganzen Umsetzung von Maastricht. Und wir haben damals gesagt, wir haben die deutsche Einheit am Halse, schwierig genug, eine riesige Herausforderung. Daher, was wir absolut verhindern müssen, ist, dass die Europäische Währungsunion für uns in die falsche Richtung läuft. Daher waren wir relativ defensiv aufgestellt.’
In die falsche Richtung? Was heißt das?
‘Das wäre ohne eine unabhängige Zentralbank, ohne klare Begrenzung von Schulden, Flexibilität soweit unbedingt notwendig, und, und, und. All die Eckpunkte, die für die Deutschen wesentlich, ja heilig sind. Einer der immer fair mit uns war, war Jacques Delors. Dies, obwohl ein Teil seiner Ideen andere war. Aber er war fair. Er hat nie versucht uns zu – verzeihen Sie mir den Ausdruck – vergewaltigen. Nie. Er hat immer gewusst, ohne die Deutschen geht es nicht. Sie kennen seinen berühmten Spruch: nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank.
‘Das hat alles mit dem Wiederaufbau zu tun, die D-Mark – die vor der Verfassung, vor dem Bundestag, vor der Bundesrepublik entstand – war das Symbol für die Wiederauferstehung Deutschlands: Sie war für die Deutschen im Grunde Teil der Staatsräson. Aber wir wussten am Anfang nicht ob das Ganze gut geht. Wir haben ‘ja’ gesagt, und die andern haben dann langsam bemerkt was die Deutschen brauchen. Das gefiel nicht allen.
‘Denken Sie mal eine Sekunde zurück, Italien in der Währungsunion, Frankreich oft genug in der Krise, ausgerechnet die deutsche Bundesbank hat in 1992 den französischen Franken gerettet. Das erzählt hier in Paris niemand, wenige wissen es.
‘Die berühmteste Szene war im September 1992, im Élysée. Wir waren zu Konsultationen in Paris, in Washington lief die Herbsttagung des IWF. Die Währungsspekulationen kochten mal wieder hoch. Die Italiener waren out of order, die Franzosen hatten, um den Franc zu sichern, einen Teil ihrer Reserven verkauft und angefangen Gold zu verkaufen. Und dann kamen wir in Paris an, und Mitterrand sagte völlig entgeistert: Helmut, ich muss aus dem EWS ausscheiden, ich muss raus. Ich muss den Franc erheblich abwerten. Wir haben erhebliche Währungsreserven verloren. Wir haben versucht der Franc zu verteidigen, wir halten es nicht durch.
‘Kohl hörte betroffen zu, er war unterrichtet, aber nicht über das Ausmaß der Krise. Er fragte trocken: François, kann einer dieser Herren oder Damen ein Telefon bedienen? Und dann hat der Bundeskanzler die deutsche IWF-Delegation erreicht, dass waren damals Gerhard Stoltenberg und ausgerechnet Helmut Schlesinger, euroskeptisch, zudem auch aus meiner Warte eher deutschnational. Kohl sagte Stoltenberg, die Franzosen sitzen in der tiefsten Krise, sie haben Angst, ihr müsst helfen. Schaut bitte, was ihr tun könnt. Der französische Finanzminister war schon zurückgerufen und per Concorde auf dem Weg nach Paris. Ein Abteilungsleiter war vor Ort geblieben. Er hieß Jean-Claude Trichet. Auf einmal klopfte es an der Tür der französischen Delegation im IWF-Gebäude, und da stand eine gewisser Gerhard Stoltenberg und sagte, wie müssen darüber reden, wie wir euch aus der Patsche helfen können. Dann haben sie eine gemeinsame Erklärung zur Verteidigung des Franc erarbeitet und in Washington umgehend veröffentlicht.
‘Und – das stand nicht in der Erklärung – die Bundesbank hat der französischen Zentralbank einen Beistandskredit gewährt. Und an dem Abend, als die Erklärung heraus kam, haben die Märkte noch kurz getestet. Es kam dann der Hinweise seitens der Bundesbank, der sagte: wir haben noch ein paar andere Maßnahmen im Köcher. Dann war Ruhe an den Märkten, und die Franzosen haben den Kredit in drei Monaten zurückbezahlt. Ich weiß nicht mehr wieviel es war, 100 oder 200 Millionen DM, glaube ich.
‘Das war für Mitterrand die Sicherheit: die Deutschen stehen zu uns. Das war politisch das wichtigste. Stück der Bildung von Vertrauen.’
War das Komitee-Delors auch ein Mittel von Kohl um Frankreich zu beruhigen, hat das eine Rolle gespielt?
‘Ja, Wir waren damit einverstanden, wir wussten genau, die Franzosen waren ehrgeizig, aber wir wussten auch, die Franzosen bekommen ihre Ideallinie nicht durch. Das war für uns klar. Wir haben gesagt: Währungsunion ja, aber nicht um jeden Preis. Natürlich brauchten wir Zeit. Daher auch die Zwischenetappe in den Straßburger Schlussfolgerungen, die Bildung zunächst einer Reflektionsgruppe. Und dann kam erst unter italienischem Vorsitz das Mandat für die Regierungskonferenz selbst. Wir spielten in gewisser Weise schon auf Zeit, weil wir uns erstens intern absichern mussten: und zweitens mussten wir uns darüber klar werden, was sind die wirklichen Eckpunkte für uns, wo müssen wir absolut sicher sein und wo können wir Leine lassen.’
Spielte in diese Zeit noch eine Rolle, dass das Projekt eingestellt werden konnte?
‘Das Risiko war immer da. Vergessen Sie nicht, Maastricht war in den Schlussverhandlungen schwieriger, als man gedacht hatte. Nehmen Sie das einfache Beispiel Soziale Marktwirtschaft. Die Franzosen haben damals unsere Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft, um Gottes willen, fern von sich gewiesen, Frankreich hatte und hat ein anderes, im Grunde dirigistisches Wirtschaftsmodell. Und dann wollten die Engländer das soziale Europa nicht mittragen. Ich bekam am Abend die Weisung von Kohl, sucht gemeinsam eine Lösung. Ich war das jüngste Glied in der Kette, da waren Jean-Louis Dewost, Pascal Lamy, Élisabeth Guigou und ich. Jean-Louis Dewost, der Chefjurist der Kommission hat uns die Idee eines Opt Out oder Opt In entwickelt, für Währungsunion wie für das soziale Europa. Die Engländer bleiben draußen, aber sie haben ein Opt In. Pardon, diese Lösung wurde in der Nacht in einer Stunde maßgeblich durch den Chefjuristen der Europäischen Kommission gestrickt, um Maastricht zu retten. In der Stunde haben einige gedacht, Maastricht läuft nicht, scheitert, kommt nicht zustande.
‘Und wir hatten immer wieder solche kritischen Momente in der Zeit, durch die Engländer. Die Italiener waren immer das fünfte Rad am Wagen aber haben konstruktiv mitgespielt. Andreotti war im Grunde gegen die deutsche Einheit, aber seine Regierung hat letztlich alles in Europa mitgemacht. Pardon, wer hat die Schlussfolgerungen geschrieben für das Mandat der Währungsunion? Ich. Die Italiener waren clever. Ihnen war bewusst, dafür brauchen wir die Deutschen und wenn das nicht mit den Deutschen läuft, läuft es nicht. Und die Deutschen werden auf jedes Wort in den Schlussfolgerungen aufpassen. Was tun? Damals kam der Berater von Andreotti zu mir, und fragte, wie seht ihr das Mandat und die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates? Er bat mich, schreib mir bitte euren Entwurf, wir übernehmen ihn. Ich habe den Entwurf geschrieben, habe ihn Tietmeyer gezeigt wiederum wie 1988, und er hat kein Wort daran geändert. Danach habe ich den Bundeskanzler um Zustimmung gebeten und den Text den Italienern übersandt, damals noch per Fax! Und das wurde der Entwurf im Europäischer Rat und nur eine Nation hat in Europa aufgejault und Änderungen gesucht, das waren die Pariser.’
Wie waren die Beziehungen mit den Niederlanden während des Maastricht-Prozess, gab es ein ‘hotline’ mit Den Haag”?
‘Nein, es gab eine hotline auf Ebene der Experten, zwischen den Außenämtern, zwischen den Finanzministerien. Aber interessanterweise, der holländische Ministerpräsident hatte keinen Stab wie ihn die Pariser hatten, oder wie wir. Der Apparat von Lubbers war Merkelbach. Joop Merkelbach. Das Amt des belgischen Premierministers war besser ausgestattet als das holländische. Lubbers begründete uns gegenüber dies damit, er sei ja nur ein primus inter pares.’
Zurück zur heißen Phase, direkt nach dem Mauerfall. Der 10-Punktenplan. Sie waren in der Arbeitsgruppe von Kohl?
‘Ja. Dies waren unter Vorsitz von Horst Teltschik, Peter Hartmann, Uwe Kaestner wegen Ost-Europa, Bitterlich, die Herren Mertes und Prill aus dem Stab der Redenschreiber des Kanzlers und zwei unserer Deutschlandpolitiker, Duisberg und Kass. Der Deutschlandabteilung für DDR-Fragen im Kanzleramt war interessanterweise direkt Schäuble unterstellt und nicht dem Bundeskanzler. Und wir haben im Vorfeld der Haushaltsdebatte im Bundestag überlegt: wie schaffen wir es, die Führung in der aufkommenden Debatte innerhalb Deutschlands an uns zu ziehen.
‘Dann haben wir Ideen entwickelt. Wir haben einfach notiert, was brauchen wir zur Absicherung deutscher Politik, da waren Europa drin, die Nato, die KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, red.). Das einzig Neue in der Liste, die zu den 10 Punkten wurde, war einfach die Möglichkeit der Bildung eine Konföderation am Ende eines Prozesses, dies um die Führung in der Meinungsbildung nicht einfach der DDR zu überlassen. Hans Modrow hatte diese Erwägung in den Raum gestellt.
‘Der Bundeskanzler brauchte solche Hilfe für die Haushaltsdebatte, um seine Führung zu unterstreichen. Die Haushaltsdebatte ist auch typisch für das deutsche Parlament. Der Finanzminister führt ein, dann kommt der Haushalt des Kanzleramts und erst dann steigt der Kanzler in die Diskussion ein. Für diesen Moment braucht er für alle wesentlichen Themen Versatzstücke, die in ihrer Reihenfolge und tatsächlichen Nutzung nie vorher festgelegt werden. Wesentlich waren damals Deutschland, Europa, Sicherheit. So entstanden in dieser Gruppe die Liste von Eckpunkten, und Horst Teltschik hat vor diese Punkte eine Ziffer gesetzt. Dieses Versatzstück gab er am Wochenende dem Bundeskanzler mit nach Hause. Und Helmut Kohl bereitete sich auf die Debatte vor und versuchte ein geschlossenes Ganzes zu bilden. Wesentlicher Teil sind eben die 10 Punkte geworden.’
War da das Thema der Grenzen, Oder-Neiße, einbezogen?
‘Nein, nein aus mehrfachen Gründen. Erstens war die Oder-Neiße Grenze von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR anerkannt worden, also von beiden Seiten. Aber ein vereinigtes Deutschland, das war Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, musste diese Grenzziehung bestätigen. Diese endgültige Grenzziehung musste von einem gesamtdeutschen Parlament erklärt werden. Das war die ständige Linie des Bundesverfassungsgerichts, es hat damals einen Umweg gewählt, das war taktisch clever vom Bundesverfassungsgericht, nicht auf die Frage der Vertriebenen zu antworten, sondern sie zu umgehen. Damit waren uns die Hände gebunden.
‘Gut, ich bin mit Kohl in jener Zeit einige Male wegen dieser Frage aneinander geraten und er sagte mir immer wieder: Bitterlich, Sie kommen zu früh, das kommt alles, nur zum richtigen Zeitpunkt, denn Kohl befürchtete eines. Wenn er dieses Thema zu früh in die Öffentlichkeit und damit in das Parlament bringt, bekommt er Widerstand im Bundestag von den eigenen Leuten wie auch aus anderen Parteien. Er befürchtete einen zu breiten Widerstand und damit sogar eine Gefährdung der Einheit. Daher die Kopplung der endgültigen Abstimmung an die Einheit!
‘Wir wussten ganz klar: die Grenze steht, sie ist endgültig. Die Vertriebenen haben das nicht ganz verstehen wollen, in Wahrheit wussten sie es auch. Aber wir mussten aufpassen, dass wir nicht als verfassungswidrig erachtet wurden. Und Kohl hat übrigens Mitterrand in Januar 1990 klar versichert, an der Oder-Neiße Linie wird nicht gerüttelt, wir mussten dass nur in einer Form vollziehen, die auch bei uns stimmig ist. Das war es.’
Der Widerstand im Bundestag war gerichtet gegen die Änderung der Grenze?
‘Nein, es gab eine Minderheit innerhalb der CDU/CSU und einzelne Stimmen auch in den anderen Parteien. Unsere Hochrechnung ergab ein Risiko von 50-80 Stimmen. Kohl hat daher absichtlich die Frage der Grenzziehung mit der deutschen Einheit gekoppelt.
‘Lubbers hat folgendes behauptet. Er hatte bei einem EU-Treffen ein Gespräch zwischen Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten mitgehört, die über die Grenze gesprochen hätten. ‘Du das niemals!’, habe Lubbers darauf zu Kohl gesagt. Lubbers meinte, dass im Entwurf der 10 Punkte, die Verschiebung der Oder-Neiße Grenze erwähnt worden sei – was aber nie der Fall gewesen ist! Später habe Lubbers angerufen bei Bush Sr. und den amerikanischen Präsidenten gewarnt: Was da passiert, geht nicht; worauf Bush Lubbers versichert habe: Wird nicht passieren. Don’t worry. Don’t worry.’
Und als der 10-Punkte Plan dann veröffentlicht wurde, war dieser Absatz nicht mehr drinnen?
‘Eine Verschiebung der Grenzen war in dem Text zu keinem Zeitpunkt enthalten – Moment, was man Lubbers hätte sagen müssen, war ganz einfach: lieber Freund Lubbers, natürlich waren indirekt die Grenzen drin. KSZE, Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Wir haben uns ja ausdrücklich bei den 10 Punkten auf die Grundlage der KSZE bezogen. Das war für mich die Absicherung. Teil der Prinzipien der KSZE ist die Unverletzlichkeit der Grenzen. Uns war das klar. Nur, wir mussten ein Weg finden, frei nach dem Motto: wie bringt man es dem Kinde bei. Das heißt ohne den Vorwurf, dass wir verfassungswidrig vorgehen würden, oder gegen ein Urteil des Bundesverfassungsgericht operieren.
‘Ich habe noch in März 1990 eine Debatte mit Kohl gehabt. Ich war in der Fraktion und hatte mit den Progressiven in der Fraktion diskutiert. Die hatten einen Entwurf zur Grenze vorbereitet, um die Gemüter zu beruhigen, da waren CDU und SPD-Mitglieder dabei. Ich hab den Entwurf mit der Gruppe noch überarbeitet und bin dann damit zu Kohl. Er las den Entwurf durch und meinte: Alles richtig, aber nicht jetzt. Das ist jetzt noch nicht der Zeitpunkt. Bring das deinen Freunden im Bundestag bei.
‘Das interessante war, nach außen haben alle geschwiegen. Nie hat einer diese Geschichte weiter erzählt, sondern man hat Kohl die Führung überlassen. Für uns war das klar, wir hatten nie einen Zweifel daran. Und Kohl hatte es Mitterrand im Januar gesagt, er hat es Bush erläutert, da wird keine Veränderung sein, keine Sorge, ich brauche nur den richtigen Aufhänger, juristisch und politisch, sonst werde ich hier im Lande beschuldigt. Und Kohl meinte – ich denke, er hat Recht damit gehabt – er koppelt das an die Einheit. Und dann wollen diese Heimatvertriebenen nicht Nein sagen. Diejenigen die gesagt hätten: wir erkennen die Grenze nicht an, hätten damit die deutsche Einheit abgelehnt. Das wollten die auch nicht. Wir hatten immerhin noch 13 Gegenstimmen.
‘Auch bei der SPD gab es 2 oder 3 Gegenstimme dieser Art, bei der FDP ebenfalls. Pardon, die Vertriebenen haben noch gelebt, sie waren noch da. Und die große Mehrheit waren nicht Nazis, nein, das waren Vertriebenen, die im Grunde……Als ich zum ersten Mal im Riesengebirge war, und zwar auf der polnischen Seite, das war vor zwei Jahren, fuhr ich von Breslau aus zusammen mit einem polnischen Professor, früher selbst Abgeordneter. Er hat mir offen erzählt, wie schwierig diese Region auch für die Polen nach dem Kriege war. Sein Vater wurde zwangsversetzt 1948 nach Schlesien und dort als Bürgermeister eingesetzt. Er sagte mir, die wenigen Deutschen, die geblieben waren, hatten Angst, allen, vertrieben zu werden. Die Mehrheit war schon weg. Dann kamen Polen, die unfähig waren, solche Güter zu führen. Seiner Zeit gingen die Spannungen hoch. Und sein Vater habe damals versucht, ein versöhnendes Element zu sein zwischen den Deutschen und den Polen. Er sei gescheitert, nicht an den Deutschen, sondern an den Polen und er habe daher die Politik verlassen. Das sei in Bezug auf seine Familie bis zu Hass gegangen, nach dem Motto: die Deutschen raus.
‘Und er sagte dann ganz offen, dass die Vertriebenen aus jener Zeit heute in ihre alte Heimat kämen – aber wie lange braucht es, um eine so komplizierte Lage wieder auf die Reihe zu bekommen. Zwei Generationen, drei Generationen. Per Ortschaft hat er dann erklärt was da in der Vergangenheit war. Für mich war das zu einem gewissen Grade ähnlich wie im Saarland und in Lothringen im kleinen, aber im Saarland und Lothringen ging die Annäherung schneller
‘Übrigens haben die Polen damals noch versucht, ping-pong zu spielen, über Paris, um uns zu zwingen, die Endgültigkeit früher zu bestätigen, wir konnten aber nicht vor dem neuen, frei gewählten DDR-Parlament sprechen. Und es gab zwei Entschließungen, eine vom deutschen Bundestag und eine von der DDR. Aber noch nicht das gesamtdeutsche.’
Wer war informiert über diesen 10-Punkte Plan? Bush, Mitterrand?
‘Nein, niemand. Das war für uns kein 10-Punkte Plan. Es war aus der Sicht Kohls, eine Zusammenfassung der wesentlichen Elemente des Standes und der Perspektiven in dem konkreten Moment. Und er hat diese einzelnen Elementen in Form von 10 Punkten vorgetragen. Wenn er diese ohne die Punkte vorgetragen hätte, hätte es niemand bemerkt. Aber Kohl wollte einfach die Meinungsführerschaft in diesen zentralen Fragen an sich ziehen und dies verdeutlichen, die SPD, die Grünen waren kontra deutsche Einheit. Selbst in der CDU gab es Skeptiker.
‘Und Teltschik stand an jenem Tag unter Druck. Als der erster rief der Amerikaner an, ‘Was das solle’, diese 10 Punkte. Teltschik hat es ihm erklärt und der Amerikaner antwortete: ja, verstanden. Schick mir bitte den Text. Dann war dort einfach Ruhe. Peter Hartmann und ich regten daraufhin an, jetzt auch die anderen Partner und Verbündeten zu unterrichten, vor allem die Franzosen, damit in Paris ja nichts in den falschen Hals gerät.
‘Und wir haben 14 Tage später in Straßburg nicht weniger Mühe gehabt. Genscher hat mit viel Mühe durchgesetzt, dass der Europäische Rat die alten Texte der KSZE wiederholt. Natürlich war darin auch die Unverletzlichkeit der Grenzen enthalten.’
Sie waren dabei in Straßburg und bei diesen Frühstück?
‘Ja beim Frühstück Kohl-Mitterrand am 9. Dezember. Beim Abendessen am 8. haben die Außenminister das Thema Deutschland bearbeitet. Und am 9. morgens ging es nur um ein Thema. Mitterrand wollte doch im Dezember nach Ost-Berlin in die DDR. Und Mitterrand fragte den Bundeskanzler: soll ich fahren oder nicht. Was war der Rat von Kohl? Das Protokoll über diese Sitzung ist beschrieben in Teltschik’s Buch. Und die Atmosphäre war weiß Gott nicht die beste.
‘Aber es gab keinen Deal über das Datum der Regierungskonferenz, das stand letzlich. Wir wollten einfach die Vorbereitungen, wir wussten ja, Italien kommt nach Frankreich. Es ist wahr, die Franzosen hätten es natürlich gerne vorher gemacht, sie hätten am liebsten im März angefangen, und wir sagten, wir brauchen Zeit zur Vorbereitung, zur Aufbereitung der sensiblen Kernfragen. Ja, wir wollten die Parallelität der beiden Regierungskonferenzen durchsetzen, aber einen Deal nein. Wir brauchten ihn nicht. Beim Frühstück in Straßburg ging es im Wahrheit allein um Ost-Berlin. Es gab keinen Deal Wiedervereinigung-Währungsunion.
‘Über Lubbers und die damaligen Zeit spreche ich im Grunde nicht gerne, er ist verstorben. Ich hatte später, als er nicht mehr Ministerpräsident war, mit ihm stundenlange Gespräche über die deutsche Einheit und seine Haltung. Zwischendurch war Lubbers von den Amerikanern als Nato-Generalsekretär abgelehnt worden, ein unmissverständliches Veto der Amerikaner. Kohl hat sich in der Nato-Sache nicht eingemischt. Bewusst nicht. Aber in Sachen EU war es klar für ihm, Lubbers kann es nicht sein wegen seiner Haltung in Sachen deutsche Einheit, er konnte nicht Nachfolger von Jacques Delors werden.’
Wegen seines Misstrauens?
‘Ja, wegen seiner Haltung. Dabei spielte auch sein Bestreben der Einberufung einer Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über die deutsche Einheit eine Rolle. Das war für uns die ‘Rote Linie’. Im Juni 1990 wollte Lubbers dies durchsetzen, eine Konferenz der Siegermächte. Er hat versucht, die Amerikaner dafür zu gewinnen. Nur die Amerikaner haben ihm unmissverständlich klar gemacht: Nein, erst solle Ruhe geben. Selbst die Briten sind ihm nicht gefolgt. Die haben ihn laufen lassen. Thatcher hat ihm nicht verteidigt. Und für uns war das mehr als schockierend, …Normalerweise hätte dies den Abbruch diplomatischer Beziehungen bedeutet.’
Wann hat es angefangen mit der Verärgerung zwischen Kohl und Lubbers?
‘Mit Lubbers hat das angefangen ab November 1989, verstärkt durch Straßburg. Die Feindseligkeit im Rat wurden damals verkörpert durch Lubbers, Thatcher und Andreotti. Die Drei. Und Schlüter folgte zunächst, änderte aber seine Haltung. Aber es war nicht nur Lubbers Haltung vor den Kulissen, er agierte zugleich auch hinter den Kulissen.’
Aber am Anfang konnten die Beiden doch gut miteinander?
‘Lubbers und Kohl war letztlich ein ganz eigenes Verhältnis, ein echtes Vertrauen gab es in Wahrheit aus meiner Sicht nie. Ich zitiere das immer an einem Beispiel: Als ich 1987 im Bundeskanzleramt anfing, kam nach einer Woche ein Brief von Lubbers an Kohl auf meinen Tisch. Kohl hatte einfach einen Haken drauf gemacht. Und ich dachte in meiner Naivität, man müsse darauf antworten. Worum ging es? Lubbers informierte Kohl alle drei Monate über die Stand des Gesetzesvorhabens über Euthanasie in den Niederlanden.’
Warum?
‘Wir zeigen den Deutschen wie man das moralisch richtig macht. Ihr Deutschen habt alles falsch gemacht in der Nazi-Zeit, Unrecht in größtem Masse angerichtet und ich zeig euch einmal, wie man das richtig macht. Alle drei Monate. Ich habe damals ein Briefentwurf für den Bundeskanzler geschrieben, er unterschrieb ihn nicht. Und strich den Entwurf einfach durch! Als dann der dritte Brief von Lubbers kam, habe ich mir Mut gefasst und den Bundeskanzler gefragt, müssen wir nicht antworten. Seine Antwort war in seiner typischen Art, merkst du nicht, was dahinter steckt. Er will uns wieder vorführen, uns belehren – später hätten wir das einen echten ‘besserwessi’ genannt. Ich werde nicht antworten. Merkt er dann nicht, dass dies bei uns ein Unthema ist wegen der Nazizeit. Selbst wenn die Holländer die beste Lösung finden, die es gibt, bei uns geht das einfach nicht. Wir sind belastet.
‘Lubbers hat später über mich versucht, sich in Sachen deutsche Einheit zu rechtfertigen, und ich habe zehn Seiten zu Hause. Wir trafen einander bei Sitzungen der Stiftung Wissenschaft und Politik über Sicherheit. Und Lubbers verwickelte mich dort mehrfach in Diskussionen über die deutsche Einheit. Und schickte mir in der Sitzung handschriftliche Notizen, bitte lesen! Ich habe zu Hause so um die zehn Seiten solcher kurzer Schreiben von Lubbers. Ich kann leider kein niederländisch, daher schwer verständlich. Er erklärte mir dann mündlich, warum er Bedenken gegen die deutsche Einheit hatte. Ich sagte, es tut mir leid. Tempi passati, es ist vorbei. Aber so wie Sie sich verhalten haben, im Bündnis und als Partner in der EU, konnten wir Sie nicht akzeptieren. Wir haben nicht verstehen können, warum Sie Ihre Bedenken so auf die Spitze getrieben haben. Ich habe dem Bundeskanzler über diese Gespräche berichtet.’
Für Kohl war schon längst klar, dass Lubbers kein Vorsitzender der Kommission werden konnte?
‘So war es. Für Kohl konnte Lubbers nicht Vorsitzender der Kommission werden, das wussten alle Beteiligten. Über die Nato-Frage haben die Amerikaner mich befragt. In Abstimmung mit dem Kanzler war meine Antwort, ja wir haben ein Problem mit Lubbers. Aber das musst ihr entscheiden. Für uns war Lubbers not reliable, nicht verlässlich, emotional, deutschfeindlich.

‘Im Gegensatz dazu war bereits das erste Treffen mit Wim Kok mehr als wohltuend. Kohl war richtig begeistert: der Mann habe in seiner Familie mehr gelitten als viele andere Niederländer, er komme aber offen auf uns zu und suche ein faires Verhältnis. Bis 1998 haben Kohl und Kok sich gut verstanden. Kohl hat nie etwas gegen Kok oder die Niederlande unternommen. Wir waren eher hilfreich, auch in Bezug auf den Vertrag von Amsterdam. Kok war Sozialist, wie auch Delors. Für Kohl hatte das keine Bedeutung.
‘Die Niederländer sind natürlich in der EU kein kleiner Spieler, Sie waren immer der Größte der Kleinen. Und auch immer bemüht, ein bisschen Vermittler zu sein. Manche haben aber auch bekräftigt, die Holländer sind der Vorposten der Engländer auf europäischen Boden. Das war die andere Seite.
‘Pardon, ich vergaß es fast. Unser Erlebnis mit Lubbers begann 1988, deutscher Vorsitz in der EG, Sondertagung des Europäischen Rat´s im Februar ’88 in Brüssel. Ergebnis war es, die Fonds zu verdoppeln. Delors wirkte vor und hinter den Kulissen, zuweilen nicht immer sehr geschickt.
‘Und dagegen waren zwei: die Briten und die Holländer. Wir hatten im Beichtstuhlverfahren alle Regierungschefs einzeln angehört, vergeblich. Und dann kam der Zeitpunkt am Abend, als Kohl mich fragte, haben wir noch einen Ausweg? Ich saß mit im Saal und notierte handschriftlich dem Bundeskanzler die gewagtesten Schlussfolgerungen eines Europäischen Rats, die ich je geschrieben habe. Diese lautete zusammengefasst, wir sichern die zukünftige Finanzierung der EG und der Verdoppelung der Fonds durch bilaterale Leistungen der Mitgliedstaten an die Kommission. Bilateral. Eine andere Überlegung war schon damals Verschuldung, aber da wollte in Wahrheit kaum einer ran. Da war erst recht keine Mehrheit zu finden gewesen. Und der Text lautete dann, wir laden diejenigen ein, die dazu noch nicht bereit sind (bilaterale Leistungen, red.) uns zu folgen.
‘Das war eine reine intergouvernementale Schlussfolgerung, im Grunde ein Schock für alle. Niels Ersboll, der Generalsekretär des Rates schaute mich völlig entsetzt an, er war der Einzige, dem ich den Text gezeigt habe. Haben Sie keine Alternative, um die Briten umzustimmen, fragte Ersboll. Nein, dann riskiert es! Ich habe das Papier dem Bundeskanzler in die Hand gedrückt, er wartete so zehn Minuten ab, bis er das Wort hatte, und teilte dann seinen Kollegen im Europäischen Rat mit, unter dem gegebenen Umständen scheint mir keine andere Wahl mehr zu bleiben als folgendes vorzuschlagen. Und er trug den Text vor.
‘Darauf viel bei Thatcher im Grunde das Gesicht herunter, bei Lubbers nicht anders und sie bat um eine Pause. Der erste der nachgab, war Lubbers, danach fiel Thatcher um. Auch das war so ein Zeitpunkt, wo wir Zweifel hatten an der Loyalität der Holländer, der von Lubbers. Es hat sich halt stark festgemacht an der Person Lubbers.
‘Jahre später gab es dann in diesem Zusammenhang die Geschichte mit Hans van den Broek. Wir waren in Paris. Und Hans van den Broek hatte ausgerechnet bei mir angefragt, ob er mitfliegen dürfe. Und ich sagte mir, um Himmelwillen, ausgerechnet Hans van den Broek, der erklärte Genscher-Gegner und, und, und. Ich habe dann mit dem Bundeskanzler gesprochen und er stimmte zu.
‘Und Hans van den Broek war perplex über die Einladung, er hat die Gelegenheit genutzt und Kohl seine Schwierigkeiten mit Lubbers erklärt, nach dem Motto: der Europäer Hans van den Broek gegen den Machtpolitiker Lubbers. Kohl hat ihm gedankt – Danke dass Sie mir das alles in Ruhe erklärt haben, holländische Innereien, jetzt weiß ich wie ich das nehmen muss. Und seitdem hat der Bundeskanzler niemals mehr ein böses Wort über Hans van den Broek gesagt. Und mir sagte er nur, erzählen Sie es mal bei Gelegenheit Hans-Dietrich Genscher. Wir alle waren Hans van den Broek nicht gerecht geworden.’
Worüber gingen die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden?
‘Es hatte mit der Politischen Union zu tun, Hans wollte sie, Lubbers gar nicht. Hans hatte mir vorher klar gesagt: Kohl war der bessere Europäer.’
Ist Kohl nochmals, wegen Straßburg, extra in die Niederlande gereist, um Unterstützung zu organisieren für die deutsche Einheit?
‘War er? Ich weiß es nicht, meiner Erinnerung nach, nein, warum auch? Was ich heute noch im Kopf habe ist der Herbst 1991 im Vorfeld Maastricht, als wir unsere deutsch- französische Initiative zur außen- und Sicherheitspolitik vorlegten, schickte der Bundeskanzler Peter Hartmann und mich nach Den Haag, um Lubbers diese deutsch- französische Initiative zu erklären. Dort lernte ich Peter van Walsum kennen, damals aus Sicht des Auswärtiges Amtes kein Freund der Deutschen, sondern eher anti-Deutsch. Er begleitete Lubbers, und nicht Joop Merkelbach, sondern eben der politische Direktor Peter Van Walsum. Für uns war das eine Überraschung. Wir haben mit Engelszungen versucht, den Beiden die deutsch-französische Initiative zu erklären, aber die Holländer waren dagegen.
‘Es gab ein gewisses N.B. – nota bene – am Ende des Textes, das deutsch-französische Korps, mit der Zielsetzung, ein Europäisches Korps zu werden. Für Den Haag schienen die Franzosen Verräter der NATO zu sein und da waren sie orthodox. Das war das Problem. Die Briten, haben am Tage darauf in Brüssel unseren Text geleakt, unter dem Tisch an Reuters weiter gegeben. Ziel: Diskreditierung – wir wurden von allen Nato- Kriegern als Bösewichte und Gegner der NATO beschimpft. Interessant war zugleich, dass sich die Bush-Leute vor und in Maastricht nie eingemischt haben. Wir haben sie unterrichtet, die Reaktion war nicht negativ, im Gegenteil, sie war positiv.
‘Wir haben damals das Auswärtige Amt und das Finanzministerium in den beiden parallelen Vorbereitungen auf Maastricht weitestgehend selbständig arbeiten lassen, natürlich haben wir regelmäßig miteinander diskutiert, Vorstellungen, Haltungen abgesprochen, d.h. die Devise lautete immer wieder Rückkoppeln, Rückkoppeln, immer wieder gegenseitig absichern. Und meine Aufgabe bestand darin, zusammen mit Johannes Ludewig für die Wirtschaftsseite, zu achten, dass beide Ministerien auf Koalitionslinie blieben und dem Kanzler keine Schwierigkeiten entstehen. Der Kanzler hat die Gesamtverantwortung und die Richtlinienkompetenz, die Minister sind aber in der Führung ihres Hauses eigenständig und selbstverantwortlich. Dies ist die deutsche Regierungsverfasstheit. Das ist so bei uns, wohl letztlich ähnlich wie in Holland.
‘Den berühmten Vorschlag der Holländer zur Europäischen Politischen Union – die EU in einer einzigen Säule – haben wir zur Kenntnis genommen. Er lief auf der Ebene der Außenministerien, und das wars. Wir sahen nicht die Notwendigkeit, einzugreifen, weil Genscher sich im Rat taktisch verhalten hat. Den Haag hat uns direkt nie auf die Bedeutung des Vorschlags mit der Bitte um Unterstützung aufmerksam gemacht.’
Hat es besondere Kontakte mit dem Élysée gegeben darüber?
‘Nein, das war auch nicht notwendig. Natürlich hatte Genscher rüber geschaut auf Dumas im Rat der Außenminister nach dem Motto: Was sagt er? Das war normal – wie auch umgekehrt. Aber das ist der Unterschied zwischen Élysée und Kanzleramt. Der Élysée hat den französische Außenminister und Finanzminister permanent begleitet, im Grunde kontrolliert. Wir nicht. Das war bei uns nur in Ausnahmelagen denkbar. So ist es bei den Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Finnland, Schweden geschehen. Das war eine Ausnahme.’
Aber dann war auf einmal die EPU tot?
‘So ist es und wir waren wieder bei der drei Säulenstruktur. Das war die Kompromissformel. Das lief wie selbstverständlich mit den Franzosen. Mitterrand war auch keiner, der sagte, das Papier muss so und so sein, sondern wir haben das vorher diskutiert mit Védrine und den Kollegen, wir haben dem Bundeskanzler berichtet, ich habe mich abgesichert im Auswärtigen Amt und im Finanzministerium. Natürlich achteten wir darauf, dass der Bundeskanzler eine Marge für die Schlussverhandlungen behielt, wie er letzlich sich einlassen würde.’
Wann ist dann genau das Datum vorgeschlagen worden, das im Vertrag von Maastricht festgelegt worden ist?
‘Für Helmut Kohl waren zunächst die inhaltlichen Festlegungen grundlegend. Dann kam, was für ihm wesentlich war, die Sitz-Frage. Und das haben in Europa zu Anfang nur wenige verstanden. Die Zielsetzung Frankfurt war für den Bundeskanzler wichtig, symbolisch auch, Chef-Sache – insgesamt ein wichtiges Element, um sich zu Hause abzusichern. Amsterdam war kein Thema, Paris war auch kein Thema. Entscheidend war der Belgische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene, er hatte den Vorsitz, und er bereitete damals eine Entscheidung des Europäischen Rats über alle anstehenden Sitzfragen, also ein Paket von Bedeutung nicht nur für Deutschland.
‘Und er hatte einen hervorragenden Berater, Dominique Struye, einer der besten seines Fachs in Europa, ruhig, hinter den Kulissen wirkend, zugleich ein exzellenter Feuerwehrmann! Er bereitete für Dehaene diese Sondertagung des Europäischen Rats akribisch vor und Dehaene hatte seinen Erfolg – und wir Frankfurt.
‘Dann kam für uns die größte Schwierigkeit. Der 2. Mai 1998, im Vorfeld des Bundestags- Wahlkampfes, gegen eine SPD, die mit Schröder an der Spitze, eher gegen die EWU war, mit einer CSU, die die EWU nur mit Kohl und nicht mit Schäuble wollte.
‘Bei dieser Tagung des Europäischen Rats, die sich als weitaus schwieriger herausstellte als von den meisten gedacht, ging es einerseits im Vorfeld eindeutig darum, sind die Italiener dabei? Über Griechenland redete niemand. Die Italiener, hin und her. Natürlich hatten auch wir diese Diskussion bei uns, nach dem Motto: die Italiener halten die Kriterien nicht ein und werden sie auch nie schaffen, aber damals hatten sie einen Ministerpräsidenten Carlo Ciampi, der ehrlich bemüht war, Italien zu reformieren.
‘Die Finanzminister hatten volles Vertrauen in ihren alten Kollegen. Darauf haben alle gesagt: wir können doch die Italiener als Gründungsmitglied schlecht ausschließen, aber man muss den Italiener klar machen, ihr müsst einfach auf Dauer mehr tun, euch mehr anstrengen. Ja, auch Belgien erfüllte die Kriterien nicht, aber Mitglied des Benelux und man ließ dies laufen.
‘Andererseits gab es die zweite Frage, die sich als viel schwieriger erwies. Entscheidend war dann, wer wird der erste EZB-Präsident? Im Vorbereitungsausschuss hatte ein Holländer den Vorsitz, Wim Duisenberg, er war auf Vorschlag der Deutschen gewählt worden. Uns nervte die Forderung von Chirac, ihr habt Frankfurt bekommen, der erste Vorsitzende der EZB müsse daher ein Franzose sein. Das war von Anfang an seine, fast trotzig vorgetragene Forderung. Eines seiner Argumente gegen Duisenberg war: er habe Frankreich nicht die Ehre erwiesen. Er habe ihm einen Orden verliehen und sich noch nicht einmal bedankt.
‘Chirac war überhaupt einer der größten Skeptiker gegenüber den Niederlanden. Stichworte: Handel, Landwirtschaft und vor allem Drogen. Das Schicksal der eigenen Tochter schien damit verbunden. Dann setzte der Abend, die Nacht der ‘langen Messer’ ein. Chirac wollte die Amtszeiten ‘halbe halbe’ aufteilen. Tony Blair – die Briten hatten den Vorsitz – war nicht vorbereitet, die Engländer meinten, Deutsche und Franzosen sollten das regeln.
‘Ich hatte damals ein Papier zur Beschreibung des Zwischenstandes geschrieben, das aus dem Kabinett Jospin in die französische Presse geleakt wurde, halbe-halbe war darin als französische Forderung festgehalten, aber von den deutschen abgelehnt. Und es ging an dem Abend hin und her, bis es krachte. Und in unserer Delegation waren die Herren Waigel und Tietmeyer, aber auch Kinkel, mit an der Spitze gegen jegliche Konzession Richtung Chirac. Und sie alle drängten Kohl in Richtung auf scharfe Ablehnung. Dies konnte bedeuten, dass die Währung unter Umständen gesprengt worden wäre mangels Entscheidung über den EZB-Präsidenten.
‘Helmut Kohl griff unter den höchst kritischen Umständen zu der Notlösung, diese Frage direkt mit Wim Duisenberg abzusprechen. Er führte ein persönliches Gespräch mit Duisenberg, bei dem eine Dolmetscherin und ich dabei waren. Zum Schluss bat Helmut Kohl Duisenberg darum, seine Vorstellung aufzuschreiben, wie er sich den Übergang mit dem Franzosen oder einem anderen Kandidaten vorstelle. Dann schrieb Wim Duisenberg seine Vorschläge auf Englisch, die Dolmetscherin half dabei, seine Aussagen in EU- Jargon zu verdeutlichen. Und ich übersetzte für Kohl den Text ins Deutsche. Dann stellt Helmut Kohl fest, OK, Sie tragen das vor und dann machen wir es so.’
Was war dann seine Bedingung?
‘Er werde aus freien Stücken über den Zeitpunkt entscheiden, wann er zurücktreten werde. Und er sagte uns, wenn alles für den Euro feststehe, festgelegt sei, trete ich zurück. Helmut Kohl antwortete: einverstanden, Sie tragen das vor im Europäischen Rat und ich werde dazu Ja sagen.
‘Unsere Delegation, in dieses Gespräch nicht eingeweiht, war derweil unverändert auf Krawall gebürstet, es gab schon schwierige Szenen mit Theo Waigel, mit Hans Tietmeyer, aber auch mir gegenüber seitens Klaus Kinkel. Es bedurfte eines Gesprächs mit dem Bundeskanzler, um die Lage – und die Herren – zu beruhigen. Chirac fiel um, er stimmte zu, er musste einsehen, es geht nicht anders. So kam diese Entscheidung dann morgens gegen 1 Uhr zustande.
‘Der Bundeskanzler musste dieses Ergebnis dann morgens um 2 Uhr der deutschen Presse erklären. Da stand der Europa-Korrespondent der FAZ auf und lachte bloß: Herr Bundeskanzler, man hat Sie über den Tisch gezogen. Helmut Kohl wurde darauf bitterböse, ja wütend und hat dem perplexen Korrespondenten der FAZ Europa erklärt, wie es funktioniert, was geht in Europa und was nicht geht. In jener Zeit war Helmut Kohl überhaupt nicht gut auf die FAZ ansprechbar. Das interessante ist, Monate später hat eine Korrespondentin des Handelsblatts, die Brüssel – wie die Zentralbanken – sehr gut kannte, die Geschichte richtig herunter geschrieben, sauber recherchiert.
‘Aber diese Schlussphase war für uns bis zum Schluss mehr als wacklig, ja risikobehaftet, weil Chirac uns sechs Monate lang mehr als nervte und in Atem hielt. Wobei es schon eigenartig war, warum er gerade für Trichet eingetreten ist. Das begreife ich bis heute nicht, er konnte in Wahrheit nicht mit Jean-Claude Trichet, er war nicht sein Mann. Am Anfang betonte er gegenüber Helmut Kohl, ein unabhängiger Zentralbankpräsident sei doch in Wahrheit unmöglich und nicht vertretbar. Er sei verwundert, was sich Trichet auf einmal ihm gegenüber herausnehme, er könne mit ihm dem Präsidenten doch so nicht reden.
‘Und wir hatten damals Vertrauen in Duisenberg, er hat das Amt sauber geführt. Uns wäre am liebsten gewesen, wenn Wim Duisenberg die ganze erste Periode machen würde. Ja, obwohl manche bei uns sagten, es sollte besser ein Deutscher an der Spitze der EZB sein. Das ging nicht. Nun gut, der ideale Kandidat aus meiner Sicht wäre Tietmeyer gewesen, um die Ängste zu beruhigen, zu reduzieren, die bei uns einfach noch zu stark waren.’
Wie haben Sie und Helmut Kohl insgesamt die Niederlande und Lubbers empfunden, von Anfang an? Und wie haben sie die Position, die die Niederlande einnahm, bewertet?
‘Helmut Kohl war sich immer bewusst der Sensibilität des Themas. Und vergessen Sie nicht, er hat ja dann erstmals wieder eine Einladung zu einem bilateralen Besuch angenommen, ja durch Wim Kok (1994-2002, red.). Da war auf einmal eine ganz andere Stimmung von dem Moment an, eine ganz andere Art im Umgang miteinander. Und Kok konnte mit uns umgehen. In jener Zeit blieb Helmut Kohl leider misstrauisch – distanziert gegenüber den deutschen Botschaftern in Den Haag. Misstrauisch gegenüber den Botschaftern. Aber mit Kok, kein Problem.
‘Ich werde das erste Gespräch zwischen Kok und Kohl nie vergessen. Kok hatte das Gespräch mit Hinweis auf die Vergangenheit begonnen. Ja, er wisse, wie die Beziehung zwischen dem Bundeskanzler und seinem Vorgänger gewesen sei, er möchte eine Beziehung des Vertrauens aufbauen. Er sei mit seinem Vorgänger in vielen Dingen nicht einverstanden, aber das sei Politik. Er möchte auf den Bundeskanzler zugehen. Er möchte ihm auch erklären, was dahinter stecke. Und dann erzählte er die Geschichte seiner Familie während der Nazi-Zeit. Es sei an der Zeit, dass Deutsche und Holländer damit offen umgehen und vertrauensvoll. Wir sind Nachbarn, wir hängen in vielen Dingen von einander ab, wir sind im Charakter sehr ähnlich und wir wollen Europa gemeinsam. Und für Kohl war das regelrecht eine Erleuchtung. Da kommt einer auf ihn zu, redet offen mit ihm. Und das war direkte Freude. Das Verhältnis mit Den Haag war sofort entspannt. Es war auf einmal ein ganz anderes.
‘Kohl war letzlich für die kleineren Mitgliedstaten der ideale Partner. Nicht Schröder. Nie. Merkel eher ja, mit Abstrichen. Ich hab immer noch die Aussage im Kopf, die mir ein langjähriger sozialdemokratischer Ministerpräsident aus Nord-Europa mehrmals offen bedeutet hat: Unsere Zeit mit euch, mit Helmut Kohl und mit dir als seinem Sherpa war ideal. Wenn wir ein Problem mit Brüssel hatten oder innenpolitische Gründe uns behinderten, hab ich Kohl direkt oder über dich angesprochen. Er hat dann den jeweiligen Minister oder Ministerpräsidenten alarmiert oder dich nach Brüssel geschickt und wir haben eine Lösung gefunden. Kohl hatte immer Verständnis für uns kleinere Länder.’
Wie haben Sie und Kohl die kleinen Länder betrachtet in der Europapolitik?
‘Wir haben in der Zeit oft überlegt, aus Rücksicht auf die anderen Partner keine deutsch- französische Initiative zu lancieren. Es wäre oft gut, wenn ein kleineres Land eine Initiative einführt oder wir ein kleines Land konkret unterstützen. Paris hat dies leider selten verstanden.
‘Der Reflex war immer deutsch-französische Initiative, ja, aber. Nichts dagegen. In der Sitzfrage wollten die Franzosen uns unbedingt dazu bekommen, den Sitz Straßburg abzusichern. Ich bin kein Gegner von Straßburg, aber ich halte nichts von den zwei Sitzen Brüssel und Straßburg. Das Europäische Parlament hätte im Grunde abstimmen müssen, aber das wollten die Franzosen aber partout nie.
‘Kohl war im Grunde für Straßburg, meinte aber, Frankreich tue im Grunde viel zu wenig für diesen Sitz. Er bot daher Paris mehrfach grenzüberschreitende Ansätze an, die in der französischen Administration nicht sonderlich beliebt waren. In der Debatte um Frankfurt habe ich dem Kanzler daher geraten, wir halten uns daher aus den anderen Sitzfragen besser raus, wir sind ja betroffen wegen Frankfurt. Die Belgier sollen es machen. Dehaene ist hoch geschickt vorgegangen. Er hatte das volle Vertrauen des Bundeskanzlers. Daher war Helmut Kohl auch für Dehaene als Kommissionspräsident. Er wurde aber von den Engländern abgelehnt, was aus meiner Sicht gänzlich irrational, ja politisch falsch war. Dafür kam Jacques Santer, eine Lösung, die Helmut Kohl damals zu Beginn unserer Präsidentschaft durchsetzte. Er war in Wahrheit keine Notlösung, viel besser als von vielen gesehen und von Frankreich dann wegen Cresson geopfert. Wir haben das nie verstanden.’
Gibt es ein bestimmtes Missverständnis über Kohl bezüglich die europäische Integration?
‘Ich hab ein Riesenglück gehabt, für Helmut Kohl gearbeitet zu haben. Einen besseren Chef kann ich mir nicht vorstellen. Er war ein hoch anspruchsvoller Chef, der vollen Einsatz, Loyalität forderte. Ich habe immer ein offenes Ohr gehabt, ich hatte eine gewisse Marge. Er hat mich abgesichert auch als ich Fehler gemacht habe. Er hat mich zwei, drei Mal symbolisch raus geschmissen, aber mich zurückgeholt, bevor ich von selbst gegangen bin. Ich hatte eine gewisse Freiheit im Denken, auch im politischen Approach. Ja. Er forderte das permanente Nachdenken auch über bestehende Zäune und Linien hinaus. Selbst wenn die Kollegen im Auswärtigen Amt mich daher zuweilen verfluchten, Kohl stand dahinter, ich setzte ja seine Politik um.’
Gibt es auch eine Art Missverständnis aus England, oder Italien, wo man Kohl einfach nicht verstanden hat?
‘Es haben andere Länder nie geschafft, uns zu entzweien oder kaputt zu machen. Die Einzigen, die damit manchmal gespielt haben, waren die Engländer. Boris Johnson hatte Mal im Jahre 1992 als Korrespondent einen Artikel in der Daily Telegraph geschrieben, worin er wirklich mit allen Vorurteilen gegen die Deutschen wütete. Heute ist er Premierminister.‘ (Boris Johnson war vom 24. Juli 2019 bis zum 6. September 2022 Ministerpräsident des Vereinigten Königreichs, red.)
- 1Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie (Pantheon Verlag 2014).
- 2Bob van den Bos, Mirakel en Debacle. De Nederlandse besluitvorming over de Politieke Unie in het Verdrag van Maastricht (Van Gorcum 2008) 322.